Theorie zur Naturheilkunde

Eine übergreifende Rahmentheorie zur Naturheilkunde reiht mehrere Komponenten aneinander, welche einen Eindruck der therapeutischen Beeinflussbarkeit der Autoregulation und Selbstorganisation geben sollen. Im Zentrum dieser Anschauung stehen Konzepte zur Selbstregulation, die zusammengefasst die Wechselwirkung zwischen dem Selbst und der Umwelt als Eigenschaften der Lebensorganisation betrachten.

Hierfür wird das lineare Ursache-Wirkungs-Modell von Störungen und Krankheit als statistisch messbare Verteilung von physiologischen Parametern und ihren Abweichungen, wie es das naturwissenschaftlich biomedizinische Konzept geprägt hat, bewusst verlassen.

Homöodynamik und Naturheilkunde

Vereinfacht lassen sich räumlich-dimensionale Modelle konfigurieren, welche die „Übertragung von Informationssignalen und -energien an und durch biologische Strukturen und deren Organisation entlang der evolutionären Auseinandersetzung mit der Umwelt zu hierarchisch geordneten Funktionseinheiten beschreiben. Gesundheit und Krankheit resultieren dabei aus der Beziehung zwischen individuellem Verhalten und Auseinandersetzung mit allen gesellschaftlich kulturellen Verhaltensweisen sowie den Umweltfaktoren und innerhalb dieser Räume.

Abb. 1 - Dimensionen von Gesundheit und Krankheit   (nach Hesch, 1987; in Melchart, 2002, S. 26)
Abb. 1 - Dimensionen von Gesundheit und Krankheit (nach Hesch, 1987; in Melchart, 2002, S. 26)

Der fließende Austausch zwischen Umwelt (Exterozeption) und Innenwelt (Enterozeption und Propriozeption) benötigt dafür gründliche Kenntnisse über die unterschiedlichen Modalitäten und Umweltreize sowie über die reaktiven physiologischen Systeme mit ihren möglichen Reizantworten.

Abb. 2 - Übersicht über Reizmodalitäten und ihre Beteiligung an der Exterozeption, Enterozeption und Propriozeption (Hildebrandt & Amelung, 1985; in Melchart, 2002, S. 27)
Abb. 2 - Übersicht über Reizmodalitäten und ihre Beteiligung an der Exterozeption, Enterozeption und Propriozeption (Hildebrandt & Amelung, 1985; in Melchart, 2002, S. 27)

Das Modell zeigt, dass die höheren Sinnesfunktionen bevorzugt für die Wahrnehmung arbeiten, während die Sinnesfunktionen der Haut für die vegetative Regulationen zuständig sind. Propriozeptive Informationen aus Muskelspindeln, Sehnen-Körperchen, Gelenkkapselrezeptoren und aus dem Gleichgewichtssinn werden bevorzugt reflektorisch verarbeitet und nicht so bewusst wahrgenommen. Alle Sinnesreaktionen habe jedoch Anteil an vegetativen und affektiven Reaktionen.

Die in der Naturheilkunde primär verwendeten Reize lösen vor allem vegetative Reaktionen aus, die auch von affektiven Reaktionen begleitet werden.

Eine besondere Bedeutung haben die motorischen Reflexbeziehungen, die sowohl segmental im Rückenmark verschaltet, als auch zentral im Mittelhirn organisiert sind und über ihre komplexe Steuerung negative Affekte (z. B. Zorn, Angst, Trauer) mit reflektorischen Verspannungen der Muskulatur begleiten. (Hildebrandt & Amelung, 1985)

Die Komplexität der Steuerungsfunktionen lässt sich gut anhand eines Schichtenmodells darstellen, welches den modulierenden Einfluss von Reizen innerhalb verschiedener Ebenen und untereinander veranschaulicht. (Heim, 1987)

Eine Autoregulation findet permanent auf allen Ebenen statt und führt zu komplexen Anpassungsvorgängen, die Ausdruck eines gesunden Systems sind.

Störungen führen zu einer Dysbalance mit Verzerrungen, Abweichungen und Einschränkungen der Regulationsfähigkeit.

Abb. 3 - Schichtenmodell der Steuerungsfunktionen des Menschen (nach Heim, 1987 in Melchart, 2002, S. 26)
Abb. 3 - Schichtenmodell der Steuerungsfunktionen des Menschen (nach Heim, 1987 in Melchart, 2002, S. 26)

Phasenmodell und Adaptation

Adaption bezeichnet die Anpassung an kontinuierliche und wiederholte Reiz-Reaktionen, welche die Widerstandsfähigkeit gegenüber den auslösenden Reizen erhöhen. Hierbei handelt es sich um primäre physiologische Überlebensstrategien. Die vegetativen Regulationssysteme geraten bei starker Beanspruchung aus dem Gleichgewicht und pendeln sich mit überschießenden Reaktionen wieder ein.

Dieses Verhalten wird auch als Alarm- und Notfallreaktion beschrieben und folgt einem dreiphasigen Muster der vegetativen Umschaltung von einer para-sympathikotonen in eine sympathikotone und zurück in die para-sympathikotone Reaktionslage. Aus der Perspektive des Stoffwechsels werden diese Phasen auch bezeichnet als:

trophotrope Phase

–>

ergotrope Phase

–>

trophotrope Phase

Reize, die aufgrund von Intensität, Qualität und Dauer stark genug sind, Adaptationen auszulösen, heißen Adaptogene. In der Stressforschung werden sie als Stressoren bezeichnet. Adaptation findet als physiologischer Prozess auf allen Regulationsebenen des Organismus statt von basalen Zellreaktionen bis hin zu komplexen Anpassungen des Stoffwechsels und des Nervensystems als Ganzes. Es können insgesamt sieben Adaptationsmodi unterschieden werden:

Tab. 3 - Adaptionsmodi und funktionelle Bedeutung (zusammengefasst nach Hildebrandt, 1985 in Melchart, 2002, S. 34)

Adaptationsmodus

Funktionelle Bedeutung

Kortikal autonom

Lernen, Begriffsbildung, Sprache, aktive Umweltgestaltung

Plastisch

Bildung und Wachstum spezifischer Leistungs- und Schutzgewebe, Steigerung der Erythropoese, Anlegen von Fettreserven

Trophisch

Steigerung von Energiereserven, Versorgungs- und Sekretionskapazität, Muskelwachstum, Neubildung von Kapillaren

Funktionell

Ökonomisierung und Umweltanpassung aller physiologischen Funktionen

Habituation

Gewöhnungseffekte durch Veränderung von Sollwerteinstellungen, Reduktion des Kreislauf- und Atemantriebs bei Trainingseffekten

Nervale Hemmung

Reduktion des afferenten Erregungseinstroms spinale Hemmungsprozesse, Rezeptoradaptation mit Verschiebung der Reizschwelle

Lokal autonome Gewebsadaptation

Gesteigerte Gewebetoleranz, Zunahme zellulärer Schutzmechanismen

Toleranzsteigernde und kapazitätssteigernde Adaptationen

Adaptationsprozesse helfen, die Reizbelastung besser zu bewältigen und damit eine Zunahme der Widerstandskraft zu entwickeln. Aus physiologischer Sicht werden toleranzsteigernde, zeitnah einsetzende Adaptationen:

  • Rezeptoradaptation,
  • Nervale Hemmung,
  • Resistenzsteigerung und
  • Konditionierung

von kapazitätssteigernden Adaptationen unterschieden, die mehr Zeit in Anspruch nehmen. Zu den letzteren gehören:

  • Stoffwechselanpassungen,
  • Änderungen im Energiehaushalt,
  • Wachstumsprozesse,
  • Ausbildung von Isolier- und Schutzgeweben.

Adaptive Normalisierung

Der Verlauf adaptiver Normalisierung erfolgt zirkaseptan periodisch. Der Wechsel von der Trophotrop-Phase in die Ergotrop-Phase und umgekehrt vollzieht sich in Wellen und entspricht einem alternierenden Grundrhythmus. Die erhöhte Kapazität im Anpassungsprozess bewirkt dabei eine zunehmende Dämpfung der Reaktionsamplituden.

Abb. 4 - Schematische Darstellung der Auslösung reaktiver Periodik durch adaptogene Reizleistung (nach Hildebrandt, 1985 in Melchart, 2002, S. 35)

Abb. 4- Schematische Darstellung der Auslösung reaktiver Periodik durch adaptogene Reizleistung (nach Hildebrandt, 1985 in Melchart, 2002, S.35)

Auch die kortikale Organisation vollzieht Anpassungsvorgänge, insbesondere durch Vermeiden negativer Selbstbewertung, Abwehr äußerer Bedrohung und Down-Regulation von belastenden Triebregungen.

Das Training der Körperwahrnehmung (Atemtherapie, Entspannungstechniken) und die Fokussierung auf Achtsamkeitsübungen erhöhen die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf die Selbstwahrnehmung als Ganzes zu lenken und Körpersignale besser verstehen und akzeptieren zu können. Hieraus kann ein bewussterer Umgang mit sich und damit ein verstärktes Gesundheitsbewusstsein hervorgehen.

Die psychische Widerstandskraft setzt sich aus drei wesentlichen Komponenten zusammen:

  • Eine innere Haltung, trotz widriger Umstände sein Leben bewältigen zu können
  • Belastende Ereignisse als Herausforderung wahrzunehmen, um sich zu entwickeln
  • Die Fähigkeit zu entwickeln, sich als Teil des Lebens zu begreifen

An dieser Stelle knüpfen auch kognitive Therapien zur Steigerung der Stressresistenz an.

Für die Ordnungstherapie der Naturheilkunde sind daher Anstöße zur autoregulativen Erkenntnisarbeit ebenso wie die (Neu-)Ordnung von Lebenszielentwürfen relevant. Sie sind im Grunde für jede feinfühlige Kommunikation in der Behandler-Patienten-Situation elementar.

Modell der Krisenverarbeitung

Hierfür erscheint auch die proaktive Kenntnis von Phasenmodellen zur Verarbeitung von Krisen und belastenden Lebenssituationen hilfreich, über die in den vergangenen Jahrzehnten viel geschrieben wurde. Das bekannteste und praktisch nachvollziehbarste Modell beschreibt vier Phasen, die mit- und nacheinander verwoben sind:

  • Nicht-Wahrhaben-Wollen, Schock und Überforderung
  • Aufbrechende Emotionen, Überkompensation, Agieren und Aktionismus
  • Verhandeln, Depression, Ermüdung, Trauer
  • Anpassung an die Realität, Akzeptanz, neuer Selbst- und Weltbezug

Die Phasen werden in Krisen zyklisch durchlaufen. Aus therapeutischer Sicht kommt es darauf an, die jeweils aktuellen Schwerpunkte situativ zu erkennen, um sie angemessen sinnvoll zu begleiten. (Kübler-Ross, 1994, 1998)

Das Reiz-Reaktions-Prinzip in der Anwendung

Die Reizgestaltung nimmt in der Naturheilkunde die zentrale Rolle ein. Die Wirkung hängt neben der Reizgestaltung vor allem auch von der Reizreaktion und ihren individuellen Bedingungen ab.

Tab. 2 - Reizgestaltung und Reaktionsbedingungen

Reizgestaltung

Reiztypologie / Reaktion

Reizqualität (Art und Modalität)

Reizintensität (Größe, Reizfläche)

Reiz-Topographie (Ort, Verteilung)

Reizdauer (permanent, intermittierend)

Reizintervall (Reihenfolge)

Reizzeitpunkt (zirkadiane Rhythmik)

Vegetative Reaktionslage

Reaktionstypus:

  • Konstitutionell
  • Genetische Persönlichkeit
  • Lebensphase
  • Geschlecht

Reaktionsstruktur

Reaktionsebene

Reaktionstypologie

Unter Reaktionstypologie werden hier speziell alle Gegebenheiten zusammengefasst, welche die Reaktion auf therapeutische Reize modulieren und daher eine Berücksichtigung in der Therapie erfordern, wie Hautsensitivität auf Lichtreize, Empfänglichkeit auf thermische Reize, Berührungsempfindlichkeit, Empfindsamkeit auf mechanische Stressoren, die individuell, alters oder geschlechtsspezifisch sind, z. B. unterschiedliche Reizverarbeitung im Rhythmus des Menstruationszyklus und besonders alle Faktoren der individuellen Ausgangslage zu Beginn einer Therapie.

Reiz-Dosierung

Die Reiz-Dosierung folgt der Arndt-Schulz-Regel (s. a. Arndt, 1885), wonach drei Reizintensitäten unterschieden werden:

  • Schwache Reize, welche das Adaptationsniveau nicht wesentlich überschreiten, gut kompensiert werden können und durch häufige Wiederholung integrative Prozesse anstoßen
  • Starke Reize, welche adaptogen wirken, indem sie unmittelbare Anpassungsvorgänge im Sinne eines Trainingsreizes auslösen
  • Sehr starke Reize, die zu überschießenden und hemmenden Reaktionen führen

Reaktionsbereitschaft

Die individuelle Reaktionsbereitschaft entscheidet maßgeblich, wie die Ansprechbarkeit auf die diagnostisch-therapeutischen Maßnahmen ausfällt, ob ein Patient als Responder, NON-Responder oder Worse-Responder reagiert.

Hierfür werden in der Naturheilkunde neben der Auswertung und Anpassung der Reize an die beobachtete Reaktion auch konstitutionelle Reaktionstypologien herangezogen.

Die Begriffe der konstitutionellen und vegetativen Reaktionslage sind allerdings etwas unscharf. Innerhalb der Kurmedizin wurden dazu:

  • anamnestische Befragungen zur Reizverträglichkeit (Typologie nach Lampert),
  • Testverfahren, um das individuelle Reaktionsmaß - meist auf Temperaturreize - abzuschätzen und
  • die Bestimmung der vegetativen Reaktions- und Ruhelage anhand von Kerngrößen wie Puls-Atem-Quotient, Ruhepulsverlauf, Schlafverhalten und ihrer Abhängigkeit von Geschlecht und Alter

durchgeführt und Auswertungen unterzogen. Sie bedürfen einer weitergehenden systematischen Forschung, welche durch Untersuchungen zur Bio-Rhythmik in den 1970er begonnen und im Rahmen der EBM Mitte der 1990er aus der Forschung verdrängt wurden. Neure Forschungen zur Psycho-Neuro-Immunologie greifen das Verständnis von Reaktionsphasen auf Stressoren wieder auf (Schubert et al., 2021).


Quellen und Referenzen

  • Arndt, R. (1885). Die Neurasthenie (Nervenschwäche), ihr Wesen, ihre Bedeutung und Behandlung vom anatomisch-physiologischen Standpunkte für Ärzte und Studierende.
  • Heim, E. (1987). Ganzheitlich Systematisches Denken. Vortragssymposium Medizinischer Holismus in der Schmerztherapie.
  • Hildebrandt, G., & Amelung, W. (Hrsg.). (1985). Balneologie und medizinische Klimatologie: Band 1 Therapeutische Physiologie Grundlagen der Kurortbehandlung. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-68550-7
  • Kübler-Ross, E. (1994). Interviews mit Sterbenden (19. Aufl.). Kreuz-Verl.
  • Kübler-Ross, E. (1998). Kinder und Tod (8. Aufl.). Kreuz-Verl.
  • Melchart, D. (2002). Naturheilverfahren: Leitfaden für die ärztliche Aus-, Fort- und Weiterbildung (R. Brenke, G. Dobos, M. Gaisbauer, & R. Saller, Hrsg.). Schattauer.
  • Schubert, C., Kächele, H., Dimsdale, J. E., Schüßler, G., & Atanackovic, D. (Hrsg.). (2021). Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie (2. Auflage 2015. 2. Nachdruck 2021). Schattauer.

Verf.: glt | Rev.: gbh | Lekt.: pz | zuletzt geändert 16.05.2025