Definition der Naturheilkunde

Definition Naturheilkunde

Eine einheitliche Definition der Naturheilverfahren existiert bis heute nicht. Der Begriff geht auf den Arzt Lorenz Gleich (1798-1865) zurück und beschäftigt sich mit natürlichen Wirkfaktoren, zusammengefasst als: „Heilen ohne Arzneistoffe und Blutentziehung mit naturbelassenen Kräften“. Versuche, die verschiedenen Strömungen, welche sich im 19. Jahrhundert parallel, mit- und nacheinander entwickelt haben, einheitlich zu definieren und zu systematisieren, scheiterten bisher. (Jütte, 1996)

Im zweiten Teil des 20. Jahrhunderts definierten K. E. Rothschuh (1965, 1981) und H.D. Hentschel (1987, 1991) und M. Bühring (1992) auf der Grundlage der naturwissenschaftlich orientierten Medizin naturbelassene Wirkfaktoren als Einwirkung von:

  • Licht, Luft, Wasser, Erde
  • Pflanzen, Mineralien
  • Naturbelassener Ernährung
  • Bewegung und Schonung
  • Klimatische Reize
  • Einhalten natürlicher Biorhythmen

Diese klassischen Säulen der Naturheilkunde haben sich in Deutschland historisch in der Entwicklung der Kurmedizin herausgebildet und lassen sich in ihrer ursprünglichen Systematik auf die Prinzipien der von Pfarrer Kneipp aufgestellten Heilkonzepte zurückführen und umfassen in grober Übersicht derzeit:

  1. Die Ernährungstherapie mit Vollwertkost, Rohkost, Heilfasten nach Buchinger, Schroth-Kur
  2. Atem- und Bewegungstherapie mit allen Massageformen, klassische Massage, Manuelle Lymphdrainage, Reflexzonentherapien wie Bindegewebsmassage, Kolonbehandlung und Unterwasserdruckstrahlmassage
  3. Hydro- und Thermotherapie mit allen klassischen Kneippverfahren: medizinische Waschungen, Bürstungen, Güsse, Packungen, Wickel, Kräuterbäder, temperaturansteigende Teilbäder, Überwärmungsbad und Sauna, Dampfbäder und Inhalationen
  4. Phytotherapie mit naturbelassenen Heilpflanzenextrakten in Tees, als Inhalation, in Aufgüssen und Bädern
  5. Ordnungstherapie, die Entwicklung eines gesundheitsfördernden Lebensstils einschließlich Entspannungstechniken und in der aktuellen Erweiterung als Mind-Body-Medizin auf Basis der Achtsamkeitsforschung

(s.a. Bühring, 1997)

Abgrenzung: Physikalische Medizin

Der Begriff Physikalische Medizin orientiert sich an den klassischen Naturheilverfahren und bildete sich in den Jahren 1980-2000 als eigenständiges Fachgebiet in der ärztlichen Weiterbildung heraus.

Es kam sukzessive zur Integration der Therapieansätze in die konventionelle Medizin, indem die naturbelassene Sichtweise zugunsten der naturwissenschaftlichen Interpretation der Wirkfaktoren verlassen wurde. Im Vordergrund steht der therapeutische Einsatz physikalischer Wirkfaktoren, die als elektrische, mechanische, optische oder thermische Kräfte beschrieben werden.

Dies beinhaltet elektrischen Strom, Strahlung und Licht in unterschiedlichen Wellenspektren, Wärme und Kälte sowie mechanisch therapeutische Reize wie Druck, Zug und Torsion sowie die Bewegungslehre. Zu den Fachrichtungen gehören daher Elektrotherapie, Hydrotherapie, Krankengymnastik, Massage und erweitert, der Einfluss der ortsständigen Balneologie und Klimatherapie, insofern sie sich weitgehend mit physiologischen Wirkkonzepten in Übereinstimmung bringen lassen. Dafür wurden naturwissenschaftlich begründete Erklärungsansätze mit physiologisch-funktionellen, thermischen und biomechanischen Prinzipien etabliert (Drexel et al., 1990).

In diesem Kontext würden auch die Chiropraktik oder Chirotherapie und Manuelle Medizin[1] und erweitert auch die Osteopathie dazu gehören, die sich allerdings aus historischen Gründen und aufgrund des Umfangs eigenständig entwickelt haben und zum Teil eigene Wirkkonzepte propagieren, die bis heute keine umfängliche Anerkennung in der konventionellen Medizin besitzen[2].

Basis der Naturheilkunde

Sebastian Kneipp schrieb: "Das ganze Leben des Menschen ist eine Schule. Tag für Tag geht jeder in diese Schule; Tag für Tag kann er lernen und sich üben. Dieses dauert bis zum Sterben. Glücklich ist der Mensch, der es versteht und sich bemüht, das Notwendige, Nützliche und Heilsame mehr und mehr sich anzueignen!" (Kneipp, 1889)

Diese Haltung zielt primär auf die natürlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Selbstbewältigung von Krankheit und dem aktiven Erhalt der Gesundheit und bildet die Basis der naturheilkundlichen Anschauung. Sie berücksichtigt konzeptionell auch:

  • konstitutionelle Faktoren wie Biorhythmen, Leistungsfähigkeit und
  • reaktionstypologische Empfindlichkeit auf Umweltreize sowie
  • die Lebenskontext-Bedingungen mit der inneren Haltung zu sich selbst.

Naturheilkunde folgt dabei einem Reiz-Reaktionsmodell, welches (Selbst-)Bewältigung als Ausdruck der Selbstheilungskräfte versteht. Mit anderen Worten sollen autoregulative Prozesse therapeutisch angeregt werden, um Störungen zu überwinden und die Gesundheit zu erhalten, mit dem Ziel, die Anforderungen des Lebens aus sich selbst besser zu meistern und eine höhere Widerstandskraft zu entwickeln.

Perspektiven der Naturheilkunde

Der noch unvollständig entdeckte Wissensschatz über die Komplexität der Autoregulation findet sich in der konventionellen Medizin nur in wenigen Ansätzen. Das kann insbesondere daran erkannt werden, dass es in der konventionellen Medizin kaum Konzepte gibt, die auf die Gesundheit und das „Gesund erhalten“ ausgerichtet sind, wie sie sich gerade in den Schwerpunkten und Zielausrichtungen der Naturheilkunde wiederfinden.

Denkweise der konventionellen Medizin

Die Aufmerksamkeit liegt darauf, Krankheiten nosologisch zu erfassen und durch statistisch gesicherte Konzepte systematisch zu strukturieren. Die primären Wirkkonzepte in der konventionellen Behandlung sind:

  • Eleminatio (Beseitigung) - das Anti-Prinzip
  • Suppressio (Unterdrückung) - das Hemm-Prinzip
  • Directio (Steuerung) - das Kontroll-Prinzip
  • Substitutio (Ersetzen) - das Auswechsel-Prinzip

Das Konzept Stimulatio (Anregung) kommt nur sehr eingeschränkt vor. Es findet sich, abgesehen von der Durchführung von Impfungen, nur in vereinzelten Therapieansätzen, wie etwa bei der Hormonstimulation in der Kinderwunschbehandlung oder z. B. der Interferontherapie bei chronischer Hepatitis - und hier auch wiederum als gezielter Lenk- und Steuerungsansatz.

Der ontologisch-dualistische Denk- und Handlungsansatz „von Maßnahmen, die sich gegen Krankheiten richten“ um Störungen zu beseitigen, findet sich demzufolge auch auf Patientenseite wieder. Störungen werden als fremd, nicht zu gehörig und als Bedrohung erlebt - „etwas, das bekämpft und überwunden werden müsse“.

Die Vorstellung, dass Symptome und Beschwerden auch Signale sein könnten, die eine fehllaufende Entwicklung anzeigen und die es zu verstehen gilt, um das eigene Verhalten zu ändern, kommt allenfalls sekundär als Selbsterkenntnis vor. Ebenso reduziert sich Prävention auf das Ausschalten von Risikofaktoren. Diese sind oft an statistischen Biomarkern orientiert und werden mittels spezifischer Therapeutika behandelt - z. B. der Einsatz von Statinen als Eingriff in den Fettstoffwechsel zur Absenkung der Blutlipide mit dem Ziel einer Arteriosklerose-Prophylaxe, die sich an Zielgrößen gesetzter Normwerte orientiert, dem LDL-Spiegel im Blutplasma.

Die Fragen „Wie erkenne ich, was mich krank macht? Was hält mich gesund?“ sind weder im Fokus der Wahrnehmung noch im Denken eines naturwissenschaftlichen Erklärungsansatzes präsent.

Naturheilkundliche Denkweise

Gesundheit und Krankheit sind relative Zustände eines dynamischen Gleichgewichts. Dies ist bildlich vergleichbar mit der Bewegung in einem mehrdimensionalen Raum, in dem sich der Mensch im Laufe der Zeit zwischen den Polen hin und her bewegt. Diese Bewegung soll diagnostisch-therapeutisch in dem Versuch unterstützt werden, sich durch Autoregulation und Selbstorganisation auf dem bestmöglichen und gesündesten Niveau einzupendeln und zu halten.

Therapeutische Maßnahmen sollen daher mittels individuell dosierter Stimulation die physiologischen Prozesse auf allen Ebenen anregen und ebenso mithelfen, die Lebenswelt in ihren individuellen Umweltbedingungen aktiv zu gestalten.

Dabei wird die individuelle Reaktion nicht durch einige wenige messbare Parameter allein bestimmt, sondern vielmehr durch alle bedeutenden Aspekte der Adaptation (s. o.) zusammenfassend beurteilt. Diese können durch die Aktivierung kortikaler, vegetativ-autonomer und trophisch-funktioneller Regulationen - im Therapieprozess durch die Reizgestaltung über Schonung, Normalisierung und Kräftigung - erreicht werden.

Die verantwortungsbewussten Eigenleistungen des Patienten sind ebenfalls Teil des Reiz- und Trainingsangebotes. Dies fördert dessen Gesundheitskompetenz und zielt darauf ab, Krisen zu bewältigen und sinngestaltende Lebensentwürfe zu entwickeln.

Quellen und Referenzen

  • Bühring, M., & Abel, U. (Hrsg.). (1992). Naturheilverfahren und unkonventionelle medizinische Richtungen: Grundlagen, Methoden, Nachweissituationen: Bd. Springer Loseblatt-Systeme. Springer.
  • Bühring, M. (1997). Naturheilkunde: Grundlagen, Anwendungen, Ziele (S. 113). Beck.
  • Drexel, H., Hildebrandt, G., Schlegel, K. F., & Weimann, G. (1990). Physikalische Medizin; Band 1—4 (K. F. Schlegel & M. Aalam, Hrsg.). Hippokrates Verl.
  • Hentschel, H. D. (1987). Über Naturheilverfahren und Außenseiter-Methoden. Physikalische Therapie in Theorie und Praxis, 6, 342–345.
  • Hentschel, H.-D., & Anemueller, H. (Hrsg.). (1991). Naturheilverfahren in der ärztlichen Praxis ; [mit 81 Tabellen]. Deutscher Ärzte-Verl.
  • Jütte, R. (1996). Geschichte der alternativen Medizin: Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. Beck.
  • Kneipp, S. (1889). So sollt ihr leben. Verfügbar auf https://www.gutenberg.org/files/37267/37267-h/37267-h.htm geprüft am 15.5.2025
  • Rothschuh, K. E. (1965). Prinzipien der Medizin; ein Wegweiser durch die Medizin. Urban & Schwarzenberg. Verfügbar auf https://archive.org/details/prinzipiendermed00roth geprüft am 15.5.2025
  • Rothschuh, K. E. (1981). Aus der Geschichte der Naturheilbewegung. Die Entwicklung allgemeiner theoretischer Grundsätze in der Naturheilkunde des 19. Jahrhunderts. Zeitschrift für Allgemeine Medizin, 57/2, 1091–1100.

[1] Begriff der ärztlichen Weiterbildung in Abgrenzung zur ursprünglichen Chiropraktik

[2] Die historische Entwicklung der Chiropraktik (J. Atkinson, D. Palmer) und Osteopathie (A.T. Still, W.G. Sutherland) begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts und wurde über 100 Jahre seitens der konventionellen Medizin aktiv bekämpft, da ihre Entwickler und Vertreter Nicht-Ärzte waren, die formal als Laien-Behandler galten.


Verf.: glt | Rev.: gbh | Lekt.: pz | zuletzt geändert 16.05.2025