Begriffsvielfalt in der Naturheilkunde - Internationale Ansichten

Eine exakte englische Übersetzung des Begriffes Naturheilverfahren existiert im Grunde nicht.

Der Begriff Naturopathy hat sich international zwar durchgesetzt, umfasst jedoch im Weiteren alles, was durch die konventionelle Medizin nicht als „wissenschaftlich“ anerkannt ist. Der Begriff verbleibt deshalb im Vergleich zur Praxis der Naturheilkunde im deutschsprachigen Raum äußerst unpräzise.

Naturopathy als deutsche Übersetzung von Naturheilkunde, umfasst daher auch medizinische Anschauungen, die sich aus einer Kombination von traditionellen Praktiken und Gesundheitsfürsorgeansätzen entwickelt haben, wie sie im 19. Jahrhundert in Europa beliebt waren.

Hierfür werden in Deutschland von Patienten bevorzugt Heilpraktiker oder naturheilkundlich ausgebildete Ärzte aufgesucht, die für verschiedene gesundheitliche Zwecke zur Verbesserung in der Grundversorgung eine große Anzahl von naturheilkundliche Diagnosekonzepten und Therapien anbieten. Diese sollen das allgemeine Wohlbefinden und die Lebensqualität in der Bewältigung von Krankheiten steigern.

In den Vereinigten Staaten wird die Naturheilkunde von naturheilkundlichen Ärzten, traditionellen Naturheilkundlern und anderen Gesundheitsdienstleistern praktiziert, die naturheilkundliche Dienstleistungen anbieten. (National Center for Complementary and Integrative Health - NCCIH, 2017)

Komplementärmedizin

Der Terminus Komplementärmedizin besitzt einen erkenntnistheoretischen Hintergrund. Er entwickelte sich in den 1950 Jahren und geht inhaltlich ursprünglich auf Niels Bohr zurück, der die rein physikalisch-chemische und eine offene biologische Betrachtungsweise der Natur als zueinander komplementär beschrieb. (Bohr, 1931)

Vor diesem Hintergrund verbreitete sich gerade im deutschsprachigen Raum in den 1980er-Jahren die Anschauung ergänzender Therapieansätze und stieß sowohl in der Ärzteschaft als auch in der Bevölkerung auf eine hohe Akzeptanz. Grund dafür war, dass sich zeigte, dass der naturwissenschaftlichen Biomedizin - unabhängig ihrer diagnostischen Errungenschaften - in vielen therapeutischen Belangen Grenzen gesetzt sind, was die Frage nach Alternativen aufwarf.

Alternativmedizin

Medizinhistorisch findet sich der Begriff Alternativmedizin in den 1940er-Jahren im englischsprachigen Raum. Er galt seit den 1980er-Jahren auch in Deutschland als Sammelbegriff für unkonventionelle, kritische Strömungen, welche den Therapieansätzen der vorherrschenden biomedizinischen Richtung widersprechen und einen alternativen Ansatz vertreten, welcher von sozialen Bewegungen oder bestimmten gesellschaftlichen Gruppen getragen werden. (Jütte, 2013)

Zu diesen Therapieansätzen gehören neben der Anthroposophie und der Homöopathie in Teilen auch die traditionelle europäische Naturheilkunde (TEN). Hinzu kommen Heilverfahren aus nicht-europäischen Kulturen wie Ayurveda (Indien), Traditionelle Chinesische Medizin TCM (China) und Osteopathie (USA).

Ihnen gemeinsam ist, dass sie einen kritischen Gegenpol zu den Konzepten und Denkweisen der etablierten, naturwissenschaftlich geprägten konventionellen Biomedizin aufstellen. In diesem Sinne sind alternativ-medizinische Ansätze von einem eigenen Menschenbild geprägt, welches die jeweilige Herangehensweise auch paradigmatisch begründet und somit einen dialektischen Gegensatz zur konventionellen Medizin proklamieren.

Complementary and Alternative Medicine - CAM

Complementary and Alternative Medicine (CAM) subsumiert international medizinische Richtungen, die bestimmte diagnostische und therapeutische Verfahren, welche zum Teil außerhalb der konventionellen Medizin stehen, alternativ bzw. ergänzend einsetzen.

Dabei wird versucht, eine vorwiegend pathogenetisch orientierte Sichtweise durch eine gesundheitsorientierte (salutogenetische) Sichtweise, welche Autoregulation und Selbstheilungskräfte sowie das aktive Rollenverständnis des Patienten betont, zu ergänzen oder zu ersetzen. (nach Pschyrembel, 2023)

Die Definition Complementary and alternative Medicine - CAM im engl. Sprachraum ist hingegen einfach und neutral gehalten (National Center for Complementary and Integrative Health - NCCIH, 2021):

  • If a non-mainstream approach is used together with conventional medicine, it’s considered “complementary.”
  • If a non-mainstream approach is used in place of conventional medicine, it’s considered “alternative.”

Die scheinbar widersprüchliche Haltung zweier Strömungen unter einem Begriff zusammenzufassen, entspricht einer pragmatischen Herangehensweise und hat sich seit Beginn der 1990er-Jahre, ausgehend von den USA, weltweit etabliert.

Übersicht der CAM-Verfahren

Es können diagnostische und therapeutische Verfahren unterschieden werden, die sich je nach ihren Funktionszusammenhängen teils widersprechen oder auch ergänzen.

CAM-Diagnoseverfahren

CAM-Diagnoseverfahren werden nach einer naturheilkundlich ausgerichteten Anamnese als Ergänzung zur konventionellen Diagnostik durchgeführt. Sie sollen diese jedoch nicht ersetzen. Vielmehr bilden sie die additive und individualisierende Grundlage zur Einleitung und Verlaufsprüfung der jeweiligen unterschiedlichen CAM-Therapie-Konzepte. Diese sind uneinheitlich und basieren auch häufig auf anderen Konzepten als dem der Traditionell europäischen Naturheilkunde (TEN). Verbreitet sind folgende CAM-Diagnose verfahren:

  • Irisdiagnostik
  • TCM Diagnostik: Pulsdiagnostik, Zungendiagnostik, Meridian-Diagnostik (letztere wird auch separat in manuellen Therapien angewendet)
  • Segment-Reflex-Diagnostik
  • Triggerpunkt-Diagnostik
  • Dunkelfeld-Blut-Diagnostik (Enderlein)
  • Antlitz-Diagnostik und Pathophysiognomie
  • Kinesiologische Testverfahren

Einen großen Raum nimmt in vielen Arzt- und Heilpraktiker Praxen mit CAM-Schwerpunkt oft die erweiterte Labordiagnostik für präventive und komplementäre Medizin ein, welche sich in den letzten 25 Jahren aufgrund der fortschreitenden Labor-Analysetechniken weiterentwickelt hat.

Hierzu gehören zahlreiche Testverfahren, die eine ergänzende Diagnostik für eine Vielzahl von Beschwerdegruppen anbieten. Sie gehen über die üblichen Surrogatparameter der konventionellen Labordiagnostik hinaus und bilden in Teilen auch Krankheitsvorstellungen ab, die in der konventionellen Medizin nicht oder noch nicht akzeptiert sind.

Es werden Laborparameter aufgestellt und befundet für:

  • Magen-Darmbeschwerden: Mikrobiom Störungen, Maldigestion
  • Nahrungsmittelunverträglichkeiten: Weizensensitivität, Kohlenhydrat-Intoleranzen, IgG-assoziierte Reaktionen
  • Erweiterte Allergiediagnostik-Verfahren
  • Mikronährstoffdiagnostik einschließlich Vitamine und Eisenstoffwechsel
  • Spezielle Parameter für Herzkreislauf-Gefäßerkrankungen
  • Indirekte Nachweise von Immunstörungen und -dysbalancen
  • Ergänzungsdiagnostik in der Onkologie, insbesondere Verfahren zur Prä-Analytik
  • Aufspüren chronischer Infektionen (Parodontitis, EBV, Borrelien, vaginale und intestinale Mykosen)
  • Laborwerte für oxidative Stress-Reaktionen
  • Schwermetallbelastungen
  • Leber- und Nierenfunktionsstörungen mit spezifischen Parametern
  • Mitochondriale Leistungsstörungen
  • Spezielle Labortests für Haarausfall
  • Erweiterte Diagnostik für metabolische Entgleisungen bei Adipositas, Prädiabetes
  • Labor für neuroendokrine Dysbalance und Stressbelastung (auch aus Speichel)

Der Sinn dieser weitreichenden und umfassenden Laboranalysen sind medizinisch durchaus strittig, da sie oft zu ausgedehnten Substitutionstherapien führen, welchen sich mit gängigen physiologischen Vorstellungen nicht in Übereinstimmung bringen lassen, z. B. Dunkelfeld-Blut-Analyse nach Enderlein. Teilweise sind die Ergebnisse auch ungenau und weisen große Schwankungsbreiten auf, z. B. Cortisolbestimmungen im Speichel, was die Auswertbarkeit einschränkt.

CAM-Therapie Verfahren

Es sind mehrere Therapiekonzepte voneinander abgrenzbar, die sich für ein Verständnis der Zusammenhänge am ehesten historisch herleiten lassen. In der Übersicht lassen sie sich in Gruppen mit unterschiedlichen Schwerpunkten einteilen. Die häufigsten Verfahren ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind:

Tradierte Reiztherapien
  • Ausleitungsverfahren (Baunscheidt-Verfahren, Blutegel, Cantharidenpflaster, Schröpfen)
  • Kolon-Hydrotherapie
  • Eigenblutinjektionen
  • Sauerstoff-Ozon-Therapie
Ernährungstherapie
  • Heilfasten
  • Ernährungskuren zur Harmonisierung des Stoffwechsels, wie F.-X.-Mayr-Kur
  • Enzymtherapien
  • Orthomolekulare Therapie (Nahrungsergänzungsmittel) als Erweiterung der Ernährungsmedizin, einschließlich Vitalpilzen (Mykotherapie)
Pflanzenheilkunde
  • Phytotherapie
  • Aromatherapie
Alternative Medikationen
  • Mikrobiologische Therapie (Probiotika-Therapien)
  • Schüssler Salze
  • Bachblüten
  • Spagyrik
Manuelle Medizin
  • Chiropraktik
  • Osteopathie
  • Craniosakrale Therapie
  • Wirbelsäulentherapie nach Dorn
  • Heilmassage (vielfältige Ansätze und Konzepte)
  • Reflexzonentherapien (Bindegewebsmassage, Fußreflexzonen u. a.)
  • Shiatsu
  • Akupressur
  • Touch for Health
Mentale Therapien
  • Autogenes Training
  • Alexander Technik
  • Meditation, einschließlich Tai-Chi
  • Yoga

Die Übersicht zeigt die breite Palette der CAM-Verfahren mit ihren sehr uneinheitlichen Konzepten, die auf unterschiedlichsten Denkmodellen und Vorstellungen basieren. Diese zu vereinheitlichen ist eine schier unmögliche Aufgabe. Um in Deutschland eine Anerkennung als Heilverfahren zu erlangen, wird daher die klinische Wirksamkeitsforschung gefordert, die sich an den Forschungskonzepten der konventionellen EBM orientieren soll.

In der Praxis werden auf diese Weise nicht anerkannte Verfahren von den Zahlungsleistungen der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland ausgeschlossen (SGB V - Gesetzliche Krankenversicherung) oder auch in Teilen akzeptiert (Private Krankenkasse). Sie verbleiben jedoch meistens in Eigenleistung der Patienten.

Eigenständige Diagnose- und Therapieverfahren CAM

Eine besondere Stellung nehmen Verfahren ein, die ein umfassendes, auf eigenen Prinzipien aufbauendes und selbstständiges therapeutisches Konzept besitzen. Diese Verfahren nehmen für sich in Anspruch, einen alternativ paradigmatischen Ansatz zur konventionellen Medizin anzubieten, der sich aus seinem Selbstverständnis heraus interdisziplinär zur konventionellen Medizin mit den Leitfragen positioniert: „Wo bin ich alternativ, wo bin ich ergänzend, wo bin ich begrenzt?“

Hierzu zählen vier unabhängige Richtungen die unabhängig von Konfessionen und politischen Systemen im 19. und 20. Jahrhundert weltweite Verbreitung gefunden haben:

  • Homöopathie (Deutschland)
  • Anthroposophische Medizin (Deutschland)
  • Traditionelle chinesische Medizin (China)
  • Ayurveda Medizin (Indien)

Das Ursprungsland der jeweiligen Therapierichtung ist in Klammern gesetzt.

Integrative Medizin

Definition

In den letzten 10 Jahren konkurriert der Begriff Integrative Medizin (IM), als eine Art Ersatz für den internationalen Terminus CAM. Der Umgang mit dem Terminus IM ist jedoch mehrdeutig. Schon der Begriff selbst determiniert sich mehrdeutig, aus dem lateinischen integro, integrare, übersetzt: erneuern, wieder aufnehmen, auffrischen und ergänzen (s. a. Pons, Langenscheidt 2024).

Somit wird ein „Etwas“ in ein anderes „Etwas“ eingefügt, hier CAM-Verfahren in die konventionelle Medizin. Der Prozess des erneuernden Aufnehmens ist an Bedingungen geknüpft, welche eine Anpassung an Bedingungen erfordert. Dies kann auf mindestens zwei Lesarten geschehen, die in ihrer Durchführung gegensätzlich sind.

Ent-Ideologisierung

Einerseits kann dahinter der Versuch gesehen werden, Richtungsstreitereien zu „ent-ideologisieren“

“Rather than viewing IM as a dogmatic field focused on narrow concepts of evidence, it could be argued that it is a transitional term that can aid in removing barriers and opening up medical practice and research towards new visionary health care deliver.” (Holmberg et al., 2012, S. 6)

Anstatt die Integrative Medizin als ein dogmatisches Feld zu betrachten, das sich auf enge Konzepte der Evidenz konzentriert, könnte man argumentieren, dass es sich um einen Übergangsbegriff handelt, der dabei helfen kann, Barrieren zu beseitigen und die medizinische Praxis für neue visionäre Gesundheitsleistungen zu öffnen.

Dazu passt auch die internationale Definition von integrativer Gesundheitsvorstellung, auch wenn diese nicht sehr präzise ist, da sie offenlässt, was dazu gehören soll und was nicht.

Integrative Health / Integrative Gesundheit

Der Begriff Integrative Health / Integrative Gesundheit bringt konventionelle und komplementäre Ansätze auf koordinierte Weise zusammen. Integrative Gesundheit legt Wert auf multimodale Interventionen, d. h. zwei oder mehr Interventionen wie

  • konventionelle Ansätze der Gesundheitsversorgung (wie Medikamente, körperliche Rehabilitation, Psychotherapie) und
  • komplementäre Gesundheitsansätze (wie Akupunktur, Yoga und Probiotika) in verschiedenen Kombinationen, wobei der
  • Schwerpunkt auf der Behandlung des gesamten Menschen und nicht nur auf einem Organsystem liegt.

Integrative Gesundheit zielt auf eine gut koordinierte Versorgung zwischen verschiedenen Anbietern und Einrichtungen, indem konventionelle und komplementäre Ansätze zusammengebracht werden, um den ganzen Menschen zu behandeln. (National Center for Complementary and Integrative Health - NCCIH, 2021)

Integrative Medizin als Kontroverse

Die zweite Lesart führt zu einer unmittelbaren Kontroverse. Hierbei geht es um eine schärfere Abgrenzbarkeit im Sinne der alleinigen Akzeptanz wissenschaftlich zu erbringender Nachweise und ihrer biostatistischen Methodik. Für diejenigen CAM-Therapiekonzepte, welchen es gelingt,

  • auf der Grundlage von EBM-Kriterien basierten Studien-Designs klinische Wirkungen analog der konventionellen Wirkstoff-Forschung nachzuweisen und zusätzlich
  • naturwissenschaftlich plausible Erklärungsansätze anzubieten,

um sie in die naturwissenschaftlich geprägte Biomedizin[1] einzufügen, sind die Türen prinzipiell offen. Der Rest wird diese Hürde nicht nehmen können und soll in der zukünftigen Praxis sukzessive ausgeschlossen werden.

Der Terminus Integrative Medizin zielt somit auch auf einen konformen Bewertungsmaßstab mit einer einheitlichen, primär naturwissenschaftlich-biomedizinischen Ausrichtung.

Das, was die Praxis zunehmend zeigt ist: Eben genau das, was Integration mit Erneuern, Wiederherstellen und Ergänzen - auch vom Begriff her meint: „Anpassen an“ und „Einfügen in“ das vorherrschende System zu seinen Bedingungen[2].

Die besonderen Therapierichtungen in Deutschland

Der Begriff Besondere Therapierichtung ist nur in Deutschland gebräuchlich. Er bezieht sich auf den Umstand, dass

  • Phytotherapie,
  • Homöopathie und
  • Anthroposophie

im Jahre 1976 im Arzneimittelgesetz insofern eine Sonderstellung erhalten haben, als dass sie von naturwissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweisen für die Zulassung ihrer Arzneimittel ausgenommen wurden. Die Erlaubnis als Arzneimittel erfolgt durch Registrierung nach definierten Herstellungsverfahren, für die allerdings alle strengen Regeln und Auflagen der Arzneimittelherstellung gelten.

Die Begründung des Bundestagsausschusses:

„…nach einmütiger Auffassung des Ausschusses kann und darf es nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, durch die einseitige Festlegung bestimmter Metho­den für den Nachweis der Wirksamkeit eines Arz­neimittels eine der miteinander konkurrierenden Therapierichtungen in den Rang eines allgemein verbindlichen „Standes der wissenschaftlichen Er­kenntnisse" und damit zum ausschließlichen Maß­stab für die Zulassung eines Arzneimittels zu er­heben. Der Ausschuss hat sich vielmehr bei der Beschlussfassung über die Zulassungsvorschriften, ins­besondere bei der Ausgestaltung der Anforderun­gen an den Wirksamkeitsnachweis, von der poli­tischen Zielsetzung leiten lassen, dass sich im Zulas­sungsbereich der in der Arzneimitteltherapie vor­handene Wissenschaftspluralismus deutlich wider­spiegeln muss.“ (Deutscher Bundestag, Ausschuss für Jugend, Familie und Gesundheit, 1976)

Weiterhin heißt es im Arzneimittelgesetz § 25 Abs. 2:

„…die zuständige Bundesoberbehörde darf die Zulassung nur versagen, wenn (…)

das Arzneimittel nicht nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ausreichend geprüft worden ist oder das andere wissenschaftliche Erkenntnismaterial nach § 22 Abs. 3 nicht dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht …“ (AMG - Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln, 2025)

Die Formulierung „jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ bleibt hierbei bewusst offen und stellt klar, dass es verschiedene Gruppen geben kann, die eine eigene Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen und ausüben. Das Gesetz gewährt damit eine pluralistische Freiheit im Sinne des Artikel 5 GG Abs. 3.

Gegen diese sogenannte „Verwässerung des Wissenschaftsbegriffes“ wird seitens strenger Kritiker alternativer und komplementärer Heilweisen immer wieder in Zyklen angekämpft und von Vertretern der naturwissenschaftlichen Ausrichtung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, und gerade auch vom Denkstil so geprägter skeptischer Journalisten, öffentlich „Sturm gelaufen“.

Dahinter steht der paradigmatische Kampf um die Alleinherrschaft einer naturwissenschaftlich geprägten Biomedizin. Diese Haltung lehnt konzeptionell eine inhaltlich-methodische Vielfalt, welche sich nicht unter einem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsbegriff zusammenfassen lässt, aus innerster Überzeugung zutiefst ab und möchte diesen Umstand daher beseitigen.

Einem solch rigorosen Vorgehen stehen verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen gegenüber, die in verkürzter Darstellung lauten:

„…Artikel 5 Abs. 3 [d. Grundgesetzes, Anm. d. Verf.] legt einen weiten Wissenschaftsbegriff zu Grunde. Er erlaubt keinen Alleinanspruch naturwissenschaftlicher Denkmodelle, sondern erfasst alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist; damit sind auch Mindermeinungen geschützt. … Den statistischen Methoden der EBM stehen deshalb die jahrhundertelangen Erfahrungen der Expirience based Medicine – insoweit als beste mögliche Evidenz gegenüber... Therapiefreiheit des Arztes und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zeigen, dass es schon auf der Freiheitsebene unterschiedliche und sich zum Teil widersprechende Vorbedingungen gibt. … Der vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes beherrschende Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung führte dazu, dass Wirtschaftlichkeitsüberlegungen gegenüber Ansprüchen der Versicherten und dem Schutz der Funktionsfähigkeit der Leistungserbringer deutlich überwiegen. … Der damit verbundenen schleichenden Aushöhlung der klassischen Grundrechte aus

  • Art. 2 Abs. 1 GG (Unternehmensfreiheit)
  • Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheitssatz)
  • Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit)
  • Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsgarantie)

gilt es gegenzusteuern, indem man sich wieder darauf besinnt, dass das Grundgesetz die Person und ihre Rechte als tragende Grundsätze an den Anfang seiner Ordnung gestellt hat und nicht Versorgungssysteme und Umverteilungsbestrebungen.“ (Zuck, 2004, S. 217 f.)

Der rechtliche Status der besonderen Therapierichtungen

Eine anerkannte besondere Therapierichtung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V ist:

„…Ein umfassendes, zur Behandlung verschiedenster Erkrankungen bestimmtes therapeutisches Konzept, das auf der Grundlage eines sich von der naturwissenschaftlich geprägten „Schulmedizin“ abgrenzenden weltanschaulichen Denkansatzes größere Teile der Ärzteschaft und weite Bevölkerungskreise für sich eingenommen hat. …“ [3]

Kennzeichen einer besonderen Therapierichtung sind demnach drei wesentliche Kriterien:

  • ein umfassendes eigenständiges Konzept,
  • weite Akzeptanz in der Bevölkerung und
  • Anerkennung in der Ärzteschaft.

Nach dem Stand von 2017 gilt dies für: Phytotherapie, Homöopathie und anthroposophische Medizin. TCM und Ayurveda würden konzeptionell auch dazu gehören, haben sich jedoch rechtlich (noch) nicht durchgesetzt. (Schumacher, 2017, S. 18 f.)

Status der Phytotherapie

Ergänzend sei hier der Hinweis eingefügt, dass die Phytotherapie im Gegensatz zur Homöopathie und zur Anthroposophischen Medizin zwar kein eigenes therapeutisches Konzept verfolgt, jedoch aufgrund des Arzneimittelstatus - der umfangreichen traditionellen Monographien ganzer Pflanzen als Wirkstoff - sinnvollerweise in den Passus der besonderen Therapierichtungen aufgenommen wurde.

Nach Anschauung der Gesellschaft für Phytotherapie GPT e. V. definiert sich Phytotherapie und ihre Phytopharmaka in folgender Weise:

„… Phytotherapie ist die Heilung, Linderung und Vorbeugung von Krankheiten und Beschwerden durch Arzneipflanzen oder deren Teile (wie z. B. Blüten, Wurzeln, Blätter) oder Bestandteile (wie z. B. ätherische Öle) oder durch Zubereitungen aus Arzneipflanzen (wie z. B. Trockenextrakte, Tinkturen, Presssäfte).“ (Gesellschaft für Phytotherapie e. V., o. J.; Kraft & März, 2006)

Arzneiliche Produkte aus Arzneipflanzen werden Phytopharmaka genannt. Die Sicherung ihrer Qualität, ihrer Sicherheit und ihrer Wirksamkeit wird durch das Arzneimittelgesetz (AMG) geregelt.

Die moderne Phytotherapie sieht sich als Teil der naturwissenschaftlich orientierten Medizin und folgt in ihrem Selbstverständnis denselben kausalen und symptomatischen Therapieprinzipen wie die moderne Pharmakologie. Dabei positioniert sie sich gleichzeitig als klassisches Naturheilverfahren. Die jahrhundertelange Tradition der Phytotherapie wurde zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach dem 2. Weltkrieg pharmakologisch von R. F. Weiss systematisiert.

Die 1971 gegründete Gesellschaft für Phytotherapie betrachtet die Phytotherapie insbesondere bei nicht akut lebensbedrohlichen Erkrankungen, als integralen Bestandteil medizinischer Therapiekonzepte.

Der Status der Phytotherapie ist als eine wirksame und nebenwirkungsarme Alternative oder Ergänzung zur konventionellen Pharmakologie in diesem Sinne anerkannt.

(Definition Phytotherapie, Gesellschaft für Phytotherapie e. V., o. D.)

Rechtliche Abgrenzung Alternativmedizin

Der Rechtsbegriff Alternativmedizin ist weiter gefasst als der Begriff besondere Therapierichtung.

„Er schließt Untersuchungs- und Behandlungsmethoden mit ein, deren zugrunde liegendes therapeutisches Konzept sich in der jeweiligen Methode erschöpft, bei denen die Methode mit dem zugrunde liegenden Konzept deckungsgleich ist und es kein darüber hinaus gehendes, übergreifendes Konzept gibt, z. B. Sauerstofftherapie, oder Frischzellentherapie.“ (Zuck, 2012; zitiert bei Schumacher, 2017, S. 19).

Es werden zudem Methoden und Konzepte zugezählt, die bei größeren Teilen der Ärzteschaft und weiten Bevölkerungskreisen nicht über hinreichende Akzeptanz verfügen.

Bezüglich des teils verwendeten Begriffs „Außenseitermethoden“ vgl. Schumacher, 2019)[4].

Rechtliche Abgrenzung: Wunderheilung und Geistheilung

Abzugrenzen von der Alternativmedizin sind Wunder- und Geistheilungen. Darunter fallen spirituelle, rituelle und magische Methoden, die typischerweise weder von Ärzten noch von Heilpraktikern angewandt werden.

Ohne bzw. unabhängig von Diagnosestellung und Anwendung von jeglichem Fachwissen berufen sich Wunderheiler schlicht auf die Aktivierung von Selbstheilungskräften. Wunderheilungen stehen damit religiösen Riten näher als der Medizin. (Schumacher, 2019, S. 787)


[1] Statistik-basierte Auswertung in Biologie und Medizin als Grundlage der wissenschaftlichen Vorgehensweise.

[2] Ein Bsp. ist die zunehmende Akademisierung und naturwissenschaftliche Ausrichtung in der Physiotherapie, in welcher der naturheilkundliche Ansatz völlig verloren gegangen ist. Ein weiteres Bsp. zeigt die Entfremdung der psychosomatischen Forschung von den ursprünglichen regulativen Modellen Uexkülls hin zu einer biostatistischen Fragebogen-Medizin.

[3] BSG, Urteil vom 04.04.2006 - B 1 KR 12/05 R: „ein umfassendes, zur Behandlung verschiedenster Erkrankungen bestimmtes therapeutisches Konzept zu verstehen, das auf der Grundlage eines von der naturwissenschaftlich geprägten "Schulmedizin" sich abgrenzenden, weltanschaulichen Denkansatzes größere Teile der Ärzteschaft und weite Bevölkerungskreise für sich eingenommen hat.“ https://openjur.de/u/168931.html

[4] in Schumacher, 2019: „Im juristischen Schrifttum werden alternativmedizinische Methoden häufig auch als „Außenseitermethoden“* bezeichnet. Aus terminologischer Sicht ist der Begriff allerdings misslich, da es theoretisch sowohl innerhalb der Schulmedizin als auch innerhalb einer alternativmedizinischen Richtung Methoden geben kann, die über keine allgemeine Anerkennung verfügen . Der Begriff der Außenseitermethode sollte deshalb von der rein schulmedizinisch geprägten Sicht entkoppelt werden und all diejenigen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden umfassen, die innerhalb einer Therapierichtung keine allgemeine Anerkennung erfahren„ * Tamm, B. (2010). Die Zulässigkeit von Außenseitermethoden und die dabei zu beachtenden Sorgfaltspflichten. Duncker & Humblot.


Quellen und Referenzen


Verf.: glt | Rev.: gbh | Lekt.: pz | zuletzt geändert 16.05.2025