Gesundheits- und Krankheitsbegriff

Definition „Gesundheit“

Der seit der WHO-Definition nach dem 2. Weltkrieg verfasste Anspruch, Gesundheit sei ein Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen,

„a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“.

Dies beinhaltet ein anzustrebendes, objektiv kaum erreichbares Ideal, denn Gesundheit schließt gerade auch die subjektive Seite, das Erleben des Kranken mit ein. Gesundheit wird damit zu einem relativen, kontextabhängigen Begriff.

Eine historische Analyse zeigt, dass seit der Antike, je nach gesellschaftlicher, religiöser, sozio-kultureller und individueller Perspektive, keine durchgängige Konzeption existiert. Sie folgt vielmehr der jeweils zugrunde gelegten Ontologie - mit anderen Worten dem, was vorrangig als seiend anerkannt wurde bzw. wird.

Erkenntnistheoretische Perspektive

Aus einem epistemologischen Verständnis heraus lassen sich wesentliche Denkweisen identifizieren, die einzeln oder in Kombination als Grundlage für die unterschiedlichsten Konzeptionen von Gesundheit herangezogen werden können. (Schmidt, 2010)

Harmonie ver­schiedener Teile als Funktionen eines Ganzen

  • Harmonie ver­schiedener Teile als Funktionen eines Ganzen, z. B. als Einklang mit Göttern, Ahnen oder Natur und Umwelt (Antike), im Verhältnis zwischen Familie, Gesellschaft und Individuum (bio-psychosoziales Modell) oder als Ausgleich zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen (Psychosomatik) oder auch als aktuelles Konzept der Homöostase und Homöodynamik (Regulation von Zu- und Abfluss als Ausdruck eines dynamischen „steady state“ Gleichgewichtes).

Kampf zwischen entgegengesetzten Mächten oder Prinzipien

  • Kampf zwischen entgegengesetzten Mächten oder Prinzipien, dem ewigen Konflikt zwischen Gut und Böse, der durch Abwehr und Vernichtung des Fremden die eigene Integrität wahren und sichern will, ob es Teufel und Dämonen sind (Mittelalterliche Weltvorstellung) oder die Abwehr gegen Bakterien und Vireninvasion (mikrobiologische Ära des 20. Jahrhunderts) oder auch die gesellschaftspolitische Angst vor Überfremdung.

Moment eines dialektischen Prozesses

  • Moment eines dialektischen Prozesses, in dem Gesund­heit und Krankheit sich gegenseitig bedingen, als Gegensatzpole auf einer Skala mit der Vorstellung eines ausbalancierten Pendelns zwischen den Polen. Gesundheit und Krankheit sind so betrachtet relative Zustände, die Teil des Lebensprozesses selbst sind und damit auch Teil des Wachstums, der persönlichen Entwicklung, Krankheit als Chance.

Hierar­chie von Teilen und Funktionen verschiedener Ebenen

  • Hierar­chie von Teilen und Funktionen verschiedener Ebenen, im Sinne eines Herrschafts- oder Ordnungssystems, dem eine Rangordnung zwischen geistigen, psychischen und körperlichen Funktionen zugrunde liege, ebenso wie der Herrschaft des Organischen über das Anorganische (Hegel), der Seele über den Körper (Platon) oder dem Verhältnis seelischer Funktionen zueinander (Freud) bis hin zum Postulat einer autokratischen Lebenskraft, die mit dem Maß der richtigen Proportionen alles zusammenhält (Hufeland).

Potentialität

  • Potentialität, dem Vermögen zu und der Geeignetheit für etwas, ist ein Konzept, das jeweils Mögliche zu verwirklichen, in Bewegung zu bringen (Aristoteles), auch die Viriditas, die Lebensfrische (Hildegard von Bingen), sowie die Geistesfreiheit (Phase des Idealismus), die beständige Metamorphose innerer Prozesse (Goethe) oder das Potential an Fröhlichkeit und Lebensoptimismus (Luther) aber auch die Leistungs- und Arbeitsfähigkeit der modernen Gesellschaft.

Transzendenz bzw. Überschreitungsbewegung

  • Transzendenz bzw. Überschreitungsbewegung hin zu ei­nem höheren, geistigen Zustand. Hierzu gehören alle religiösen, spirituellen, philosophischen und mystischen Konzepte, welche Gesundheit als Sinn suchenden und Sinn gebenden Erkenntnisprozess des Lebens auffassen.

Autonomie oder Tu­gend

  • Autonomie oder Tu­gend, das heißt Resultat eigenverantwortlichen Handelns, von der Tugendlehre der Antike mit dem Konzept der Mäßigung und Selbstbeherrschung, auch als Resultat von Weisheit und Bildung eines reflektierten Lebens im Sinne der umfassenden Gesundheitsberatung von Diätetik über Hygiene bis zum moralisch-sittlich „rechten“ Lebens in allen Kulturen (viele Autoren über die Jahrhunderte).

Kausale Wirkmechanismen

  • Kausale Wirkmechanismen als Konzept ineinandergreifender, mechanisch analysierbarer Prozesse, diese Entwicklung begann im 17. Jahrhundert mit dem Aufkommen der kausal-mechanisch quantifizierbaren Forschung und begründete im 19. Jahrhundert die moderne Naturwissenschaft. Mit der Technisierung drängte dieser Ansatz in der Medizin im 20. Jahrhundert alle anderen Konzepte in den Hintergrund. Die Fähigkeiten, Körperfunktionen in immer kleineren Bestandteilen zu erforschen und sichtbar zu machen, definiert Gesundheit als störungsfreien Ablauf, in dem man gezielt steuernd eingreift, um anhand von Messwerten die statistisch gesicherten passenden Parameter zu erreichen. Die Elimination aller subjektiven Verzerrungen soll dabei ein möglichst hohes Maß an Objektivität erlangen und das empirisch-analytische Vorgehen kausal begründen. Es werden Korrelationen zwischen Messwerten, Verhalten und Häufigkeiten von Krankheitsverläufen usw. erstellt, welche aufgrund der statistischen Datenlage die Entscheidungsprozesse bestimmen.

Organisation staatlicher Gesundheitsfürsorge

  • Organisation staatlicher Gesundheitsfürsorge „Public Health“, etwa als Ergebnis staatlicher Planung und Gesundheitspolitik, geleitet vom Konzept der empirisch begründeten Nützlichkeit und Effizienz in Bezug auf wirtschaftliche Prosperität der modernen Gesellschaft. Diese Entwicklung kam mit der industriellen Revolution ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf und etablierte sich aufgrund der technischen Leistungsfähigkeit die naturwissenschaftlichen Fächer als Basis der Medizin. 1861 wurde das Tentamen philosophicum durch das Physikum ersetzt (Bühring, 1997).

Pluralität und Heterogenität

  • Pluralität und Heterogenität als eigenes, vom individuellen Kon­text abhängiges Konzept, das nicht mehr verallgemeinert werden kann. Dies ergibt sich in der Postmoderne als folgerichtige Konsequenz der Verdrängung aller alternativen Gesundheitsvorstellungen in zum Teil auch bekämpfte Nebenströmungen durch den Mainstream des kausal-mechanistischen Reduktionismus. Neben Individualisierung und Kontextualisierung geht es darum, weitere Forschungsansätze und -methoden außerhalb der reinen Naturwissenschaften als Teil der Gesundheitsforschung zu implementieren.

Ausblick

Diese Zusammenschau zeigt das Spektrum und die Komplexität des Gesundheitsbegriffes in seiner zentralen Bedeutung auf.

Für eine konstruktive Perspektive kommt es zukünftig auf die Integration aller dargestellten Elemente in ein sinnvolles Gefüge sich interdisziplinär ergänzender Forschungsansätze an, um einer Verwässerung und De-Professionalisierung entgegenzuwirken.

Der Grund für diese notwendige Entwicklung ist einfach zu verstehen. Es gelingt aus der Perspektive des rein kausal-analytisch, technisch-mechanistischen Denkstils trotz aller Bemühungen der vergangenen 100 Jahre nicht, Gesundheit als integralen Teil der Lebenswelt des Menschen umfänglich und zufriedenstellend zu erfassen.

So kam es seit den 1950er zur parallelen (Weiter-)Entwicklung eines breiten und unübersichtlichen Gesundheitsmarktes von vielen Heilungs- und Gesundheitskonzepten, die sich jedoch nicht automatisch um eine wissenschaftliche Fundierung bemühen, wodurch es zunehmend schwieriger und wichtiger wird, die Spreu vom Weizen zu trennen (Matthiessen, 2018).

Dem gegenüber steht eine zunehmend polarisierende Rationalisierung des im naturwissenschaftlichen Paradigma geprägten Gesundheitswesens, die aus Sicht des Patienten in eine Entmenschlichung mündet und den steigenden Wunsch nach Alternativen und Erweiterungen in der Gesundheitsfürsorge gesellschaftlich prägt.

Diese Entwicklung wirft zusätzlich die Frage nach den dahinterstehenden Menschenbildern auf, welche prägend für die Haltung und den Umgang im medizinischen Alltag sind.


Quellen und Referenzen

  • Bühring, M. (1997). Naturheilkunde: Grundlagen, Anwendungen, Ziele (S. 113). Beck.
  • Matthiessen, P. (Hrsg.). (2018). Stellungnahme vom Dialogforum für Pluralismus in der Medizin (DPM) zu unqualifizierten Pauschalverurteilungen der Komplementärmedizin.
  • Schmidt, J. M. (2010). Gesundheit! – Geschichte und Konzepte des Leitbegriffs der Medizin. Wiener klinische Wochenschrift, 122(17–18), 538–542. https://doi.org/10.1007/s00508-010-1429-7

Verf.: glt | Rev.: gbh | Lekt.: pz | zuletzt geändert 23.05.2025