Medizin & Wissenschaft

Aus epistemologischer Perspektive ergibt sich die Frage, welche Position die Medizin in einem komplexen Wissenschaftsgefüge einnimmt. Hierzu dominieren historisch abgeleitet, derzeit zwei Ansätze:

  • als erstes, Medizin sei Naturwissenschaft und
  • als zweites, Medizin sei eine praktische Handlungswissenschaft.

Beide Modelle können jedoch nur Teilaspekte abbilden, was im Folgenden näher analysiert wird.

Paradigmatischer Wandel in der Medizin

Auch innerhalb der Medizin wurde Kuhns Wissenschaftslehre rezipiert. Von diesem Standpunkt aus lassen sich in den letzten beiden Jahrhunderten mehrere Entwicklungsphasen aufzeigen, in denen evolutionäre Erkenntnisse zu tiefgreifenden paradigmatischen Wandlungen in der Medizin geführt haben. Hierzu gehören:

  • Hygiene als Versorgungs- und Prophylaxe Prinzip im 19. Jahrhundert
  • Mikrobiologische Ära im Übergang zum 20. Jahrhundert
  • Antibiotische Ära ab 1936
  • Technisierung der Medizin nach 1950
  • Evidence based Medicine (EBM) ab 1995

In den 1990er-Jahren etwa argumentierten hochrangige Vertreter der EBM, dass mit dieser Entwicklung „ein neues Paradigma für die Praxis der Medizin“ entstanden sei, welches die klinische Forschung seitdem dominiert.

Insgesamt haben im 20. Jahrhundert vor allem naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Technisierung die Entwicklung der Gesellschaft geprägt.

Im Zuge dieser Entwicklung haben auch in der Medizin naturwissenschaftliche Erkenntnisse alle anderen Wissenschaftsansätze mit ihren Erkenntnissen auf Nebenspuren verdrängt. In der Konsequenz kam es zu einer einseitigen Sichtweise und Lesart nützlicher Forschung für die Medizin aus einer rein naturwissenschaftlich-technischen Perspektive.

Das naturwissenschaftliche Paradigma der Medizin im 20. Jahrhundert

Übertragen auf die Medizin können drei Leitsätze maßgeblich für das naturwissenschaftliche Verständnis der Medizin als Hypothesen formuliert werden. Diese spiegeln die Entwicklung der letzten 100 Jahre wieder und haben sich als dominante Sichtweise paradigmatisch durchgesetzt:

  • Der erste Satz: Alles in der Natur ist aus Teilchen und Partikeln - gemeint sind Moleküle, Atome, subatomare Teilchen - aufgebaut. Allein diese Teilchen und die Wirkkräfte zwischen ihnen existieren. Aus diesem Grunde muss alles aus der partikularen Anschauung erforscht werden. Die primäre Methodik ist die empirische Analytik, denn Wissen ist einzig durch systemische Beobachtung, Experimente und Datenanalysen zu erzeugen.
  • Der zweite Satz: Gestaltbildende Kräfte außerhalb der molekular-atomaren Wirkungen existieren nicht. Folglich kann es keine übergreifenden Ordnungssysteme in der Natur geben, sondern nur Klassifizierungen in chemische Elemente und biologische Arten. Evolution ist daher einzig aus Darwins Theorie ableitbar. Existenzielle Fragen des Lebens sind daher nicht Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung.
  • Der dritte Satz: Aufgrund der komplexen molekularen Wechselwirkung ist die Reaktion eines Organismus auf einen Eingriff (z. B. Arzneimittel) wenig bis kaum vorhersagbar. Sie können daher an einem einzelnen Individuum auch nicht sicher erfasst werden, weshalb es keine sichere Kausalerkenntnis am Einzelfall geben kann. Zur Beurteilung der Ursache-Wirkungs-Beziehung muss deshalb eine möglichst kognitiv verzerrungsfreie[1] und „objektive“ Untersuchung mit spezifischen Fragen an einem Kollektiv vorgenommen werden, die folgerichtig auf dem Auswertungsinstrument der statistischen Analyse beruhen muss.

Meilensteine der Wissenschaftsentwicklung

Die Entwicklung einer solchen Wissenschaftsperspektive kommt nicht von ungefähr. Sie folgte einer jahrhundertelangen Tradition, die in Wellen verlief und über mehrere Meilensteine den wissenschaftlichen Denkstil der Medizin maßgeblich prägte. Die wesentlichen Errungenschaften waren:

  • Das Experiment als Grundlage von Forschung, Francis Bacon 1620
  • Das Konzept der Kausalität als wissenschaftliche Begründung, David Hume 1758
  • Deduktion und Induktion als Methodik, John Steward Mill 1843
  • Randomisation mit Kontrollgruppen und Statistik als wesentliches Werkzeug, Ronald Fisher 1935
  • Weitere Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts:
    • erste kontrollierte Studien zur Tuberkulose-Behandlung, ab 1946
    • Einführen des Doppelblind-Studiendesigns, ab Mitte der 1960er
    • Konzept der Metaanalysen zur Auswertung klinischer Studien, ab 1980
  • Gründung der Cochrane Collaboration: Definition optimierender Kriterien systematischer Übersichtsarbeiten zur klinischen Forschung, 1993
  • Einführung der Evidence Based Medicine (EBM), David Sackett 1996

Inwieweit diese Entwicklung - ungeachtet der erzielten Fortschritte - die Medizin und ihre praktischen Tätigkeiten umfänglich erfassen und repräsentieren kann, soll im Folgenden analysiert werden.

Medizin als Naturwissenschaft

Die moderne westliche Medizin steht mit ihren Verankerungen in direkter Abhängigkeit der theoretischen und praktischen Naturwissenschaften auf der Basis der Forschungsergebnisse aus den Grundlagenwissenschaften Physik, Biologie und Chemie.

Folgt die Medizin diesem Ansatz, will sie analog zum Vorgehen des naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns grundsätzlich generalisieren.

Das bezieht sich sowohl auf Erkenntnisse der Funktionsweise des menschlichen und tierischen Organismus an sich, als auch auf seine Krankheiten einschließlich der die Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten bestimmenden Faktoren im Allgemeinen. Nicht ei­­­­­­ngeschlossen sind in diesem Denkstil einzelne Menschen und Tiere mit ihren individuellen Erkrankungsverläufen.

Darstellungen individueller Fälle und Fallgeschichten, sogenannte Kasuistiken (engl. case history, clinical case seminar), gehören nur in dem Sinne zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis, wenn sie Repräsentativität und Verallgemeinerbarkeit besitzen oder zumindest auf der Möglichkeit fußen, auf Basis einer Fallgeschichte zu Analogieschlüssen zu kommen, die weitergehende Forschungsfragen formulieren. Die individuellen Aspekte des Falles sind aus dieser Perspektive jedoch nicht relevant.

Tatsächlich bezieht sich die Medizin jedoch nicht nur auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse der naturhaften Zustände und Vorgänge im lebenden Organismus, sondern auch auf die Grundlagen des Handelns, den sich daraus ableitbaren klinischen Methoden und ihrer Wirksamkeitsforschung für die Anwendung im Einzelfalle.

Damit geht sie konzeptionell über die mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassbaren Zusammenhänge wesentlich hinaus.

Medizin als praktische Handlungswissenschaft

Statt der Frage „Was ist? oder „Was ist wie?“ stehen im klinischen Alltag vielmehr die Fragen „Was ist zu tun?“, „Was machen wir als Erstes?“ und „Warum?“. Solche praktischen Fragen lassen sich weder naturwissenschaftlich noch geisteswissenschaftlich ausreichend konkret beantworten.

Die wissenschaftliche Ausrichtung einer so praktizierten Vorgehensweise ist nicht, Aussagen “über die Beschaffenheit der Welt“ zu treffen, sondern „eine begründete Handlung in der Welt“ zu schaffen.

Von diesem erkenntnistheoretischen Standpunkt kann die Medizin neben den Rechtswissenschaften, Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und in einigen Bereichen der Ingenieurwissenschaften vor allem als eine praktische Handlungswissenschaft definiert werden.

Diese Auffassung wurde in Bezug auf Medizin besonders von dem deutschen Philosophen und Arzt Wolfgang Wieland (1933-2015) ausgearbeitet und vertreten. Dieser bezieht sich auf die Schriften von Richard Koch (1882-1949), der bereits 1917 einen vergleichbaren Ansatz vertrat. Diese beiden Vertreter medizinwissenschaftlichen Denkens gründen sich philosophisch auf die Wissenschaftslehre des Aristoteles (384-322 v. Chr.), für den die Medizin eine techné (altgr. Handwerk, Kunst, Kunstfertigkeit) gewesen ist. (Wieland, 2014)

Eine solche Definition erhebt das Handeln am Menschen selbst zur Wissenschaft und unterscheidet nicht mehr klar zwischen Wissen schaffender Forschung und der praktischen Anwendung, welche eher auf Fähigkeiten und Verstehen basiert.

Im klinischen Alltag ist eine Trennung zwischen theoretischen und praktischen Teilbereichen nicht so überzeugend möglich, wie z. B. in den Ingenieurwissenschaften, da es ja in der medizinischen Praxis nicht um die Entwicklung allgemeingültiger Verfahrenstechniken geht, sondern stets um die klinischen Aspekte von Diagnose, Therapie und Prävention einzelner Krankheitsbilder im Allgemeinen und deren sinnvolle Anwendungsmöglichkeiten im Einzelfalle.

Dazu kommt, dass sich das Spektrum eines wissenschaftlichen Vorgehens wesentlich um die praktischen Fähigkeiten und die ethische Haltung der Ausübenden in ihrem Handeln - in der unmittelbaren Anwendung am Patienten - nochmals erheblich erweitert. Gerade diese konkrete, primär praktische Ausrichtung prägt den klinischen Alltag in der Medizin.

Die klinisch-praktische Ausrichtung

Der reale Schwerpunkt der Medizin verweist auf einen weiteren Schwerpunkt. Unabhängig jedes Theorems - schon vom historischen Verständnis her - ist Medizin seit ihrem Bestehen, geprägt durch eine handwerkliche Kunst:

  • von der Chirurgie bis zur Krankenpflege,
  • vom therapeutischen Gespräch bis zur praktischen Untersuchung,
  • von der Begleitung einer Person in Krisensituationen und
  • von der gelingenden Geburt und der Begleitung eines würdevollen Todes.

Medizinisches Handeln ist - wie leicht ersichtlich ist - ein Dienst am Patienten, vor allem anderen getragen von der Philosophie und Ethik des Handelns am Menschen und Tier.

Es reicht daher in der Praxis nicht aus, sich allein auf die theoretischen und praktischen naturwissenschaftlich und geisteswissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse oder statistisch gesicherte Handlungsleitlinien zu beschränken.

Theoretische Erkenntnisse und die Ergebnisse einzelner naturwissenschaftlicher und soziologischer Forschungen lassen sich nicht 1:1 auf die Komplexität der Lebenswelten und schon gar nicht auf die eines individuellen Lebens übertragen.

Der Mensch als Individuum funktioniert auch nicht als Teilfragment einzelner grundlagenwissenschaftlicher Disziplinen, sondern nur als Ganzes in der Gesamtheit aller Lebensbedingungen (Kontext) als ein verletzliches Individuum.

Dazu kommt der situative Handlungszwang des Praxisalltags: „Theorie hin und her, was machen wir jetzt sofort mit Frau K. und Herrn M.?“. Ganz unabhängig vom aktuellen naturwissenschaftlichen bzw. soziologischen Erkenntnisstand, der in aller Regel für sehr vielen Fragen oft (noch) keine Antwort liefert oder konzeptionell z. B. in existenziellen Fragen gar nicht liefern kann oder will.

Die tägliche medizinische Praxis besitzt daher ihre eigenen erkenntnistheoretischen Bedingungen, die am ehesten auf der Basis einer Real World Evidence[2] und einer passenden ethischen Haltung beschreibbar sind.

Es existieren tagtäglich unüberschaubar viele Einzelfälle mit Besonderheiten, die sich beim genauen Hinsehen nicht nach aufgestellten Leitlinien und ihren externen Evidenzkriterien richten. Der uralte und bekannte Leitsatz „Krankheiten lesen keine Lehrbücher“ ist auch in der heutigen Praxis bestimmend.

In der konkreten Anwendung am Patienten können sich abweichend von gesicherten Studienergebnissen und SK-Leitlinien andere, sogar gegensätzliche und widersprüchliche Erkenntnisse mit unerwarteten Reaktionen ergeben und zur „individuellen Wahrheit“ des Patienten werden, die es im Alltag zu bewältigen gilt.Hierfür gibt es insbesondere in der allgemeinmedizinischen Praxis mit den wenig selektierten Kranken tagtäglich zahlreiche Beispiele. Diese klinisch praktische Ausrichtung verlangt nach ethischen Normierungen, ohne die es keine verantwortliche Medizin geben kann.

Medizin als wissenschaftliche Heilkunde

Die Erörterung zeigt bis hier, dass sich Medizin in keine der bestehenden Wissenschaftskategorien umfassend und passgenau einfügen lässt.

Eine allgemeinere, offene Definition beschreibt Medizin daher sui generis als Heilkunde (engl. healing knowledge), die alle zur Verfügung stehenden, wissenschaftlichen Errungenschaften nutzt, einer wissenschaftlich begründeten Arbeitsweise folgt und sich an ethischen Grundsätzen ausrichtet.

Jede medizinische Tätigkeit ist eine praktische Handlung am Menschen und Tier auf der Grundlage komplexer Sachverhalte und verlangt interdisziplinäre Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus allen zur Verfügung stehenden Wissenschaftsbereichen. Sie prägen die Arbeitsweise und gewichten die professionelle Begegnung zwischen Behandler und Patient.

Eine alleinige Reduktion auf theoretische naturwissenschaftliche Erkenntnisse und quantitative Forschung (Empirische Analytik) versagt an der Komplexität des Einzelfalles in der Praxis ebenso, wie die Betonung eines alleinigen geisteswissenschaftlichen Denkens - qualitative Forschung[3] (Soziologie).

Medizin ist nicht zwangsweise eine Wissenschaft an sich, sondern eine praktische Heilkunde. Sie setzt wissenschaftliche Erkenntnisse in einer möglichst wissenschaftlichen Arbeitsweise auf die jeweils bestmögliche Weise am Kranken um.

Im Ideal fördert Medizin zugleich den Erwerb von Wissen und die Entwicklung individueller Fähigkeiten aller Ausübenden und steht auf der Basis einer differenzierten Ethik.


[1] Kognitive Verzerrung (Bias) ist ein psychologischer Sammelbegriff für die systematisch-unbewussten Fehler im Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen.

[2] Real World Evidence (RWE)- Reale Evidenz in der Medizin bedeutet Evidenz (= Nachweise) aus realen Daten, die klinisch gewonnene Beobachtungsdaten sind. Diese werden nicht durch randomisierte kontrollierte Studien (RCT) gewonnen, sondern aus der Analyse der routinemäßigen klinischen Praxis erstellt und geprüft.

[3] Die qualitative Forschung beschreibt Methoden der Soziologie, um nicht-standardisierte Daten zu erheben und auszuwerten mit dem Ziel, tiefere Einblicke in das menschliche Verhalten zu gewinnen (Entscheidungskriterien, Motivations- und Handlungsstrukturen abzubilden und zu ergründen).


Quellen und Referenzen

  • Kuhn, T. S. (2017). Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (H. Vetter, Übers.; 1. dt. Auflage 1973, 2. Revidierte dt. Auflage von 1976). Suhrkamp.
  • Popper, K. R. (1971). Logik der Forschung (4. Aufl.). Mohr Siebeck. Kap. 1 S. 3-21.
  • Wieland, W. (2014). Medizin als praktische Wissenschaft: Kleine medizintheoretische Schriften (R. Enskat & A. G. Vigo, Hrsg.). Georg Olms Verlag.

Verf.: glt | Rev.: TBD | Lekt.: pz | zuletzt geändert 21.05.2025