Medizin als wissenschaftliche Heilkunde
Die Erörterung zeigt bis hier, dass sich Medizin in keine der bestehenden Wissenschaftskategorien umfassend und passgenau einfügen lässt.
Eine allgemeinere, offene Definition beschreibt Medizin daher sui generis als Heilkunde (engl. healing knowledge), die alle zur Verfügung stehenden, wissenschaftlichen Errungenschaften nutzt, einer wissenschaftlich begründeten Arbeitsweise folgt und sich an ethischen Grundsätzen ausrichtet.
Jede medizinische Tätigkeit ist eine praktische Handlung am Menschen und Tier auf der Grundlage komplexer Sachverhalte und verlangt interdisziplinäre Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus allen zur Verfügung stehenden Wissenschaftsbereichen. Sie prägen die Arbeitsweise und gewichten die professionelle Begegnung zwischen Behandler und Patient.
Eine alleinige Reduktion auf theoretische naturwissenschaftliche Erkenntnisse und quantitative Forschung (Empirische Analytik) versagt an der Komplexität des Einzelfalles in der Praxis ebenso, wie die Betonung eines alleinigen geisteswissenschaftlichen Denkens - qualitative Forschung[3] (Soziologie).
Medizin ist nicht zwangsweise eine Wissenschaft an sich, sondern eine praktische Heilkunde. Sie setzt wissenschaftliche Erkenntnisse in einer möglichst wissenschaftlichen Arbeitsweise auf die jeweils bestmögliche Weise am Kranken um.
Im Ideal fördert Medizin zugleich den Erwerb von Wissen und die Entwicklung individueller Fähigkeiten aller Ausübenden und steht auf der Basis einer differenzierten Ethik.
[1] Kognitive Verzerrung (Bias) ist ein psychologischer Sammelbegriff für die systematisch-unbewussten Fehler im Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen.
[2] Real World Evidence (RWE)- Reale Evidenz in der Medizin bedeutet Evidenz (= Nachweise) aus realen Daten, die klinisch gewonnene Beobachtungsdaten sind. Diese werden nicht durch randomisierte kontrollierte Studien (RCT) gewonnen, sondern aus der Analyse der routinemäßigen klinischen Praxis erstellt und geprüft.
[3] Die qualitative Forschung beschreibt Methoden der Soziologie, um nicht-standardisierte Daten zu erheben und auszuwerten mit dem Ziel, tiefere Einblicke in das menschliche Verhalten zu gewinnen (Entscheidungskriterien, Motivations- und Handlungsstrukturen abzubilden und zu ergründen).