Ethik in der Praxis

Elementare Themen der Medizin-Ethik

Seit Beginn der 1980-Jahre werden vier wesentliche Aspekte besonders betont, die in einen zu realisierenden Anspruch im Umgang mit Kranken münden (Beauchamp & Childress, 2019):

  1. Autonomie und Selbstbestimmung - Das Autonomieprinzip gesteht jeder Person das Recht zu, seine eigenen Ansichten zu haben, seine eigenen Entscheidungen zu fällen und Handlungen zu vollziehen, die den eigenen Wertvorstellungen entsprechen. Dies beinhaltet nicht nur Freiheit von äußerem Zwang und manipulativer Einflussnahme, sondern auch ein positives Recht auf Förderungen der eigenen Entscheidungsfähigkeit.
  2. Vermeiden von Schaden - Beschreibt die Verpflichtung zwischen Nutzen und Risiko aller Interventionen im Einzelfall abzuwägen und gemeinsam mit dem Patienten bzw. seinen Angehörigen zu erörtern. Dies ist insbesondere in der Begleitung schwerer Erkrankungen mit tief eingreifenden Therapien wesentlich.
  3. Das Wohl des Patienten ist höchstes Gesetz - Das Fürsorgeprinzip erfordert aktive Unterstützung und beinhaltet auch präventive Maßnahmen, es führt zur wesentlichen Frage: Was ist zu tun, um diesem Patienten am besten zu helfen? Diese Frage bedarf in jeder Situation einer individuellen Neubewertung.
  4. Alle Patienten sollen gleichbehandelt werden - Patienten, deren Fälle sich gleichen, haben das Recht auf gleiche Behandlung. Sollten sich aus der Gesamtschau des Einzelfalles deutliche Unterschiede ergeben, soll der größtmögliche Nutzen für den Patienten sorgfältig abgewogen und durchgesetzt werden.

Diese ethischen Grundlagen fokussieren ein hohes Anforderungsprofil, welches sich für die ambulante Praxis in drei Kategorien unterteilen lässt:

  • Der Umgang mit Kranken
  • Die Haltung der therapeutischen Seriosität
  • Die professionell kollegiale Haltung

Die Grenzen zwischen diesen Aspekten sind in der Praxis fließend und bedürfen einer permanent-situativen Anpassung. Entsprechend dieser Anschauung wächst ein ethisches Konzept an seinen Aufgaben und verfeinert sich durch die Reflexion der bewältigten Aufgaben auf dem Hintergrund neuer Erkenntnisse beständig weiter. In diesem Sinne ist es stets vorläufig, in seiner Entwicklung offen gegenüber neu auftauchenden Fragen, jedoch gleichzeitig in seinem Fundament so krisenfest wie möglich und fußt auf einem Menschenbild, das den auf Hilfe Angewiesenen, Verletzbaren, von Krankheit Betroffenen, im Spektrum des Lebens vom Neugeborenen bis zum alternden und sterbenden Menschen zum Ausgangspunkt des Handelns macht.

Der Umgang mit Kranken

Die ethische Haltung für das diagnostisch-therapeutische Selbstverständnis in der ambulanten Praxis umfasst zwölf Leitgedanken:

  1. Sie bietet ihr Wissen und ihre Kompetenz an, hebt aber nicht die Selbstbestimmung des Patienten auf.
  2. Jede Behandlung versteht sich als Begleiter des Patienten auf seinem Sinn findenden Weg in Reflexion seiner körperlichen, seelischen und geistigen Lebensvorstellungen.
  3. Die Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Diagnostik- und Behandlungsmethodik werden eingehalten und stets transparent benannt.
  4. Gegenüber den eigenen Fähigkeiten wird eine offene und selbstkritisch reflektierende Haltung eingenommen.
  5. Es besteht eine Selbstverpflichtung zur Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und einem authentischen Dialog zu Defiziten im Miteinander, auch innerhalb der Kollegenschaft.
  6. Wo immer dies von den Patienten gewünscht wird und dies nicht der eigenen Grundüberzeugung des Behandlers aus begründeten Zusammenhängen zuwiderläuft, wird eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen zum Finden der besten Lösungen im Einzelfall angestrebt.
  7. Jede seriöse Behandlung setzt eine tiefe Überzeugung bzw. Motivation des Helfens und Unterstützens voraus und distanziert sich dadurch, wenn sie als Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, von überzogenem Gewinnstreben.
  8. Der proaktive Umgang mit den Patienten wird durch Achtung der Würde bestimmt.
  9. Manipulation und Täuschung, aus welchen Motiven auch heraus, sollen ausgeschlossen werden.
  10. Realistische Abklärungen von Erwartungen, den eigenen und denen des Patienten, sind im Prozess der Begleitung Ausdruck einer sich der jeweiligen Situation bewussten Verantwortung.
  11. Die Kommunikation zwischen Behandler und Patient ist durch Klarheit und Offenheit geprägt, die bei professioneller Distanz stets wohlwollende Empathie miteinschließt.
  12. Fehler geschehen und stellen kein ethisches Problem dar, solange sie offen angesprochen und selbstreflexiv angegangen werden.

Auf diese Weise versteht die professionelle Praxis Ethik als einen offenen Diskurs, der sich permanent neuen Einsichten öffnet und eine faire Kritik eigener Grundlagen und Positionsbestimmungen gegenüber allen weiteren, die Medizin bestimmenden Perspektiven begrüßt.

Die therapeutische Seriosität

Die Verpflichtung zur therapeutischen Seriosität (Kiene & Heimpel, 2010) verdichtet in der Alltagspraxis die Aufgaben für professionelle Behandlerinnen und Behandler und beugt auf diese Weise einem Missbrauch von Macht und therapeutischer Hybris vor, indem sie sieben Aspekte besonders hervorhebt:

  1. Die gewissenhafte medizinische Arbeitsweise in Anamnese und Befunderhebung
  2. Das kontinuierliche Bemühen um fundiertes medizinisches und psychologisches Fachwissen und den Erkenntnisfortschritt in den zugehörigen Wissenschaften
  3. Die Kenntnis über diagnostische und therapeutische Alternativen zum eigenen Handeln einschließlich deren Möglichkeiten und Grenzen
  4. Das proaktive und bereitwillige Offenlegen der theoretischen, epistemischen und empirischen Grundlagen der eigenen Ansichten und Arbeitsweise
  5. Die möglichst bewertungsfreie und fachgerechte Aufklärung über therapeutische Alternativen zur eigenen Profession
  6. Die Achtung gegenüber der individuellen Erkenntnisperspektive des Patienten und seinen Entscheidungsprozessen
  7. Die praxisnahe, realistische und verständliche Aufklärung zu möglichen Ergebnissen von Diagnose und Therapie

Die therapeutische Seriosität verpflichtet somit jeden aktiv im Gesundheitssystem Arbeitenden zu eigenverantwortlichen kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung.

Die professionell kollegiale Haltung

Eine praktizierte ethische Haltung bezieht sich nicht nur auf Patienten und Behandler, sondern auch auf den Umgang aller im Gesundheitswesen agierenden Berufsgruppen miteinander. Damit rückt die kollegiale Haltung in den Vordergrund. Diese spiegelt sich in mehreren Arbeitsfeldern:

  • Kollegiale Intervision und Supervision,
  • im Rahmen konsiliarischer Tätigkeiten,
  • bei Patientenübergaben,
  • in Arbeitsgruppen,
  • während interdisziplinärer Zusammenarbeit,
  • innerhalb von Forschungs-Teams sowie
  • zwischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der eigenen Praxis,
  • mit Kolleginnen und Kollegen in Gemeinschaftspraxen sowie
  • in der Positionierung und Diskussion in der Öffentlichkeit einschließlich
  • Auftritten im Internet und sozialen Medien.

Die ethische Haltung definiert und differenziert dabei die Fähigkeiten, mit schwierigen Situationen so umzugehen, dass sich die beruflichen Werte beständig weiterentwickeln können, damit die angestrebten Ziele in den unterschiedlichen Situationen erreicht werden. Hierzu gehören vorrangig drei Aspekte:

  • Aufbau und Reflexion persönlicher Kompetenzen
  • Das Verhalten in Handlungen und Kommunikation
  • Der Umgang bei kollegialen Meinungsverschiedenheiten und Konflikten

Persönliche Kompetenzen

  • Realistische Selbsteinschätzung: Die Fähigkeit, die zugesagten fachlichen Kompetenzen angemessen einzubringen - „Kann ich, was ich verspreche: fachlich, kommunikativ und zeitlich einhalten?“.
  • Verpflichtung: Das Erfüllen eingegangener Verpflichtungen, unabhängig von den Gegenleistungen.
  • Loyalität: Begonnene Aufgaben zu Ende führen, unabhängig von eigenen Vor- und Nachteilen.
  • Handlungsweise: Sachorientiertes statt ich-bezogenes Handeln - „der Aufgabe verpflichtet sein – nicht vorwiegend den persönlichen Vorstellungen und Bedürfnissen“.
  • Teamfähigkeit: Bereitschaft zur Selbstreflexion und Achtung der Stärken und Schwächen aller Beteiligten zur Förderung der gemeinsamen Entwicklung.

Verhalten in Handlungen und Kommunikation

  • Ehrlichkeit: Die zugesagten Beiträge in der versprochenen Weise vorbehaltlos einbringen und aktiv an ihrer Verbesserung arbeiten.
  • Redlichkeit: Aufrichtiger Verzicht auf Täuschung, Manipulation und Betrug.
  • Verlässlichkeit: Zusagen einhalten, dabei evtl. unausgesprochene Erwartungen frühzeitig klären, sobald sie wahrgenommen werden.
  • Transparenz: Reden und Handeln stimmen überein: „Er tut, was er sagt und umgekehrt… und legt alle Motive offen“.
  • Deutlichkeit: „Klartext“ sprechen, auch wenn es nicht gefällt.
  • Courage: Zentrale, eigene Überzeugungen vertreten, auch gegen den Widerstand einer Gruppenmeinung oder wenn sie sozial unerwünscht sind. Das gilt ebenfalls, wenn sie durch Autoritäten nicht abgesichert werden.
  • Wohlwollender Umgang: Eine konstruktive, dialogische Bereitschaft insbesondere auch im Konflikt bewahren, welche insbesondere die Fähigkeit beinhaltet, handelnde Personen und ihre Handlungen auseinanderzuhalten.
  • Sorgfalt: beim Formulieren eigener Standpunkte gegenüber abweichenden Positionen.
  • Beitragsbereitschaft: Der Wille, den angemessenen eigenen Anteil am Gesamtergebnis aktiv einzubringen und sich mit anderen gemeinsam zu entwickeln.

Verhalten bei Meinungsverschiedenheiten und in Konflikten

Den „Mut zu Widerspruch“ aufbringen, um Mehrheitsbeschlüsse und sachbezogenes Handeln gegeneinander in ihrem jeweiligen Kontext abwägen zu können, mit dem Ziel, sich für die bestmögliche Bewältigung der Aufgabe einzusetzen, ist ebenfalls ein ethisches Prinzip. Dazu gehört im Einzelnen:

  • Ungeliebte Entscheidungen mitzutragen und zu helfen, sie zum Erfolg zu machen, wenn sie für die Aufgabe offensichtlich erforderlich und sinnvoll sind; statt diese zu hintertreiben, wenn sie nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen.
  • Entspricht ein Gruppenkonsens nicht den eigenen ethischen Vorstellungen und Grundsätzen und sind die eigenen Gegenargumente wohlbegründet, muss dies entsprechend kommuniziert werden, um eine bessere Lösung zu finden.
  • Ist dies situativ nicht möglich, bleibt nur in aller Deutlichkeit zu sagen, dass man den Beschluss nicht mittragen kann und in letzter Konsequenz auch die Bereitschaft zu zeigen, aus der Gruppe auszuscheiden. Eine solche Entscheidung braucht schwerwiegend fachliche und auch ethische Begründungen.
  • Die offene Bereitschaft in Entscheidungsprozessen da, wo erforderlich, einen neutralen Vermittler zur Konfliktlösung zu akzeptieren und konstruktiv zu unterstützen.

Das ethische Spektrum in der medizinischen Praxis

Die ethischen Grundlagen fokussieren insgesamt ein hohes Anforderungsprofil, welches die drei dargestellten Kategorien umfasst.

Die Grenzen sind fließend und bedürfen einer permanent-situativen Anpassung. Entsprechend dieser Anschauung wächst ein ethisches Konzept an seinen Aufgaben und verfeinert sich durch die Reflexion der bewältigten Aufgaben beständig aus sich selbst.

In diesem Sinne ist es stets vorläufig und in seiner Entwicklung offen gegenüber neu auftauchenden Fragen, jedoch gleichzeitig in seinem Fundament so krisenfest wie möglich, auf einem Menschenbild, das den auf Hilfe Angewiesenen, Verletzbaren, durch Krankheit betroffenen, neu geborenen, Alternden und Sterbenden Menschen zum Ausgangspunkt des Handelns macht.


Quellen und Referenzen

[1] Beauchamp, T. L., & Childress, J. F. (2019). Principles of biomedical ethics (8th ed.). Oxford University Press.

[2] Brüllmann, P. & Müller, J. (2023). Cicero: de Officiis.

[3] Kiene, H. & Heimpel, H. (2010). Ärztliche Professionalität und Komplementärmedizin: Was ist seriöses Therapieren? Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 12 | 26. März 2010. https://www.aerzteblatt.de/archiv/70330/Aerztliche-Professionalitaet-und-Komplementaermedizin-Was-ist-serioeses-Therapieren

Weiterführende Literatur

  • Beauchamp, T. L. (2007). The ‘four principles’ approach to health care ethics. In Principles of Health Care Ethics (pp. 3–10). John Wiley & Sons, Ltd.
  • Beauchamp, T. L., & Faden, R. R. (2017). The right to health and the right to health care. In Health Rights (pp. 9–22). Routledge.
  • Bergner, T. (2021). Mentale Gesundheit für Ärzte und Psychotherapeuten: Ein Praxisbuch zur Verbesserung der Lebensqualität.
  • Biller-Andorno, N., Monteverde, S., Krones, T. & Eichinger, T. (2021). Medizinethik. Springer VS.
  • Childress, J. F. (2022). Respecting personal autonomy in bioethics: Relational autonomy as a corrective? In Philosophical Studies Series (pp. 135–149). Springer International Publishing.
  • Childress, J. F., & Beauchamp, T. L. (2022). Common morality Principles in Biomedical Ethics: Responses to critics. Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics: CQ: The International Journal of Healthcare Ethics Committees, 31(2), 164–176. https://doi.org/10.1017/s0963180121000566.
  • Curlin, F. & Tollefsen, C. (2021). The Way of Medicine: Ethics and the Healing Profession. Universty of Notre Dame Press
  • Gahl, K. (2005). Urban Wiesing (Hrsg. in Verbindung mit Gisela Bockenheimer-Lucius, Eduard Seidler und Georg Marckmann) (2003) Diesseits von Hippokrates. 20 Jahre Beiträge zur Ethik in der Medizin im Ärzteblatt Baden-Württemberg. Gentner Verlag, Stuttgart, 411 Seiten, ISBN 3-87247-615-7. Ethik in der Medizin, 17(1), 75–76. https://doi.org/10.1007/s00481-005-0357-y
  • Maio, G. (2017). Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin: Ein Lehrbuch - Mit einem Geleitwort von Wilhelm Vossenkuhl. 2. Auflage. S. 477ff.

Verf.: glt | Rev.: smi | Lekt.: pz | zuletzt geändert am 19.02.2025

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