Analyse der Organon Paragraphen zum Rebound-Effekt
Auch in Hahnemanns Organon finden sich Hinweise auf Rebound-Effekte zur Begründung des Simile-Konzeptes in den §§ 22-28 sowie § 52, §§ 54-60 (Hahnemann, 2017). Der Zusammenhang war für Hahnemann klinisch offensichtlich evident und wird durch Zitate anderer Quellen belegt (siehe Fußnote zu § 58):
§ 22 Es sind zwei Prinzipien von Arzneiwirkungen zu unterscheiden, entweder werden Arzneien gewählt, die dem Krankheitszustand ähnliche (homöopathische) oder entgegengesetzte (antipathische) Symptome erzeugen können, was durch empirische Belege nachgewiesen werden soll.
§ 23 Entgegengesetzte, antipathische, enantiopathische (grch. gegen das Leiden gerichtet) Verschreibungen, wirken allenfalls palliativ und lindernd. Die Krankheitssymptome werden nicht kurativ beeinflusst, sondern treten nach einiger Zeit, in einem stärkeren Grad, wieder auf.
§24 Es bleibt daher die homöopathische Verordnung, bei der die Gesamtheit aller Symptome des Krankheitsfalles, seinem Entstehungszusammenhang, soweit er bekannt ist, und alle Begleitbeschwerden für die Arzneiwahl herangezogen werden.
§ 25 Empirische Belege zeigen, dass die am meisten homöopathisch gewählte Arznei, basierend auf den Ergebnissen der Arzneiversuche, in potenzierter Form und geringer Menge, kurative Reaktionen auslösen.
§ 26 Das homöopathische Prinzip erfordert, dass der therapeutische Reiz der krankheitserregenden Affektion ähnlich genug und zugleich an Intensität überlegen ist.
§ 27 Die Heilkraft von Arzneien beruht daher auf der Fähigkeit, eine physiologische Umstimmung auszulösen, wenn sie homöopathisch genug auf den gesamten Einzelfall abgestimmt wird und die Arzneikraft stärker ist, als der krankheitsauslösende Reiz selbst.
§ 28 Das homöopathische Prinzip ist empirisch nachweisbar. Eine wissenschaftlich theoretische Erklärung dazu ist von untergeordneter Wichtigkeit, um die empirisch basierten Prämissen herzuleiten und entfällt daher.
Das von Hahnemann propagierte Modell der arzneilich ausgelösten „Kunstkrankheit“ wird in dieser Analyse nicht berücksichtigt. Eine Diskussion dazu findet sich im Abschnitt Hahnemanns Krankheitsmodell (Link).
§ 52 Die homöopathische und allopathische[2] Vorgehensweise basieren auf entgegengesetzten unvereinbaren Prinzipien und lassen sich in einem Krankheitsfall nicht beliebig kombinieren.
§ 54 Das allopathische Behandlungskonzept definiert Krankheiten einheitlich und arbeitet demzufolge mit therapeutischen Schemata, welche dem Einzelfall übergeordnet werden. Grundlage dafür sind die jeweilig bestimmenden theoretischen Vorgaben zur Krankheitserkenntnis, welche folgerichtig zu unterschiedlichen Klassifikationen von Krankheitsentitäten führen und sich eher weniger auf empirische Daten stützen.
§ 55 Die primäre Wirkung der allopathischen Therapie ist palliativ, was unmittelbare Linderung und symptomatische Erleichterung verschafft.
§ 56 Die antipathische Methodik basiert auf Galens Lehre Entgegengesetztes mit Entgegengesetzem zu begegnen. Die ausgelösten Linderungen sind jedoch nur palliativ. Gerade bei chronischen, nicht sehr schnell verlaufenden, Krankheiten führen sie nur zu episodisch vorgetäuschten Verbesserungen, da sie lediglich auf einen Teil der Symptomatik ausgerichtet sind.
§ 57 Die Vorgehensweise, auf einen Teil der Symptomatik eine lindernde Arznei oder Maßnahme zu verordnen, basiert stets auf der Tatsache, dass für diese spezielle Symptomatik eine palliative Wirkung nach dem contraria contrariis Prinzip bekannt ist. Alle anderen Symptome des Falles werden dabei nicht berücksichtigt. Hahnemann benennt mehrere Beispiele zur Illustration dieses Vorgehens:
- Opiate für starke Schmerzen
- Abführmittel bei Obstipation
- Kälte als Sofortmaßnahme bei Verbrennungen
- Warme Bäder bei Frostigkeit
- Stimulantien bei Schwächezuständen
§ 58 Die allopathische Arzneianwendung ist rein symptomatisch und zielt nicht auf die Behandlung der zugrunde liegenden langwierigen Störung oder Krankheit. Es kommt daher bei solchen Anwendungen nach Phasen der symptomatischen Besserung meist zur Aggravation der gesamten Krankheit, was als Malignität des Geschehens oder als neue Krankheit gedeutet wird.
§ 59 Hahnemann nennt viele Beispiele für Rebound-Effekte in unterschiedlichen Therapiesituationen:
- Kaffee gegen Tagesmüdigkeit, erst Vigilanz-Steigerung dann stärkere Erschöpfung und Schläfrigkeit
- Opiate bei Schlaflosigkeit, erst Betäubung mit Bewusstseinsverlust, gefolgt von Erregung und Schlaflosigkeit in den anschließenden Nächten
- Opiate bei infektiöser Diarrhoe, welche zum Sistieren durch Darmlähmung führen, gefolgt von vermehrtem Durchfall
- Opiate bei infektiösem Reizhusten, der zu fiebrigen Zuständen und Schweißausbrüchen in der Gegenregulation führt
- Canthariden-Tinktur zur Blasenreizung bei Harnverhaltung, was die Entleerung erzwingt und anschließend die Harnverhaltung verstärkt
- Der Circulus vitiosus von Abführmitteln bei Obstipation, je mehr Verstopfung umso mehr Abführmittel, was zu mehr Verstopfung führt
- Stimulantien bei Schwächezuständen, welche nach kurzer Vigilanz-Steigerung zu mehr Müdigkeit und Erschöpfung führen
- Bitterstoffe und reizende Gewürze bei atrophischer Gastritis, was die Magenmotilität letztlich vermindert
- Frostigkeit durch warme Bäder, die erst erwärmen und in der Gegenregulation mehr Kälteempfindlichkeit und Frieren nach sich ziehen
- Kälte bei Verbrennungen, welche zunächst den Schmerz lindern, in der Gegenregulation die Entzündung verstärken und damit den Gewebeschaden vergrößern
- Chronische Nasenschleimhautschwellungen, die durch schleimhautreizende Präparate behandelt werden, führen nach anfänglicher Sekretion zu vermehrter Schleimhautschwellung und Nasenverstopfung
- Hochdosierte elektrische Reizung gelähmter Extremitäten, welche zu vermehrtem Untergang von Muskelgewebe, mit Zunahme des Lähmungsbildes, führt
- Aderlass als Maßnahme gegen Kongestion und Palpitation, was in der Gegenregulation diese Symptome vermehrt
- Große Dosen Baldrian bei typhösen Zuständen, welche letztlich die vollkommene Erschöpfung erhöhen und gerade bei den so behandelten Patienten die Mortalitätsrate eher steigern
- Digitalis bei Vorhofflimmern, was bei nachlassender Wirkung und unvorsichtig gesteigerten Dosierungen zu Schwäche und Tod führt
§ 60 Zusammenfassend führt der antipathische Gebrauch von Arzneien zu verstärkten Gegenregulationen mit Zunahme der Symptomatik, welcher regelhaft mit einer Dosiserhöhung begegnet wird. Der palliative Effekt lässt jedoch im Laufe der Zeit immer weiter nach und die gesamte Krankheitssituation verschlimmert sich durch Zunahme derselben Beschwerde oder Auftreten anderer neuer und schwerer wiegender Symptomatik. Eine Heilung des ursprünglichen Zustandes wird so nicht erreicht.
Auch wenn Hahnemanns Beispiele heutzutage an einigen Stellen als überholt gelten oder durch bessere Dosierung weit weniger gefährlich sind, zeigen sie den Denkstil und die Konsequenzen in der Vorgehensweise bei paradoxen Arzneireaktionen eindrücklich auf.
Aus epistemologischer Perspektive kommt es genau darauf an, dass Rebound-Effekte eine regulative physiologische Grundlage haben und damit einen indirekten Nachweis für das Similie-Prinzip darstellen. Unabhängig von der Art der Maßnahmen über die Jahrhunderte hinweg, sind sie scheinbar zeitlos gültig, wie im Vergleich zu heutigen, konventionell medizinischen Therapieansätzen deutlich wird.