Die phänomenologische Perspektive in der Homöopathie

Das homöopathische Krankheitsverständnis orientiert sich primär an der Phänomenologie der Krankheitserscheinungen (s.a. Organon Einleitung Hahnemann, 2017). Alle auftretenden Phänomene des Krankheitsfalles werden als Erscheinungen im Sinne des Abweichens vom vorhergehenden „gesunden Zustand“ der individuellen Regulation gewertet und als Symptommuster exakt und umfassend dokumentiert. Unterschieden werden dabei:

  • manifeste Symptome der Pathologie
  • funktionelle Störungen
  • individuelle Eigenarten der Regulation (vegetativ, hormonell, immunogen, zirkadian)
  • auffallende konstitutionelle Merkmale

Fallanalyse und homöopathische Arzneidiagnose

Es werden daher zur homöopathischen Fallanalyse ausdrücklich alle physiologischen Reaktionen des Kranken, als individuelle Zeichen seiner Regulation[1], miteinbezogen. Das bedeutet für die Praxis:

Jede Störung oder Krankheit wird als symptomatisch erkennbare Abweichung der Homöodynamik des Organismus aufgefasst, weshalb alle zur Verfügung stehenden Daten des Falles - einschließlich der Krankengeschichte - in einer phänomenologischen Gesamtschau erfasst werden:

  • sämtliche körperlichen Beschwerden,
  • ihre akute und chronische Entwicklung,
  • Ausprägung jedes Symptoms mit allen Modalitäten, Empfindungen, Lokalisationen und Begleiterscheinungen,
  • die vegetative, somatosensible und hormonelle Reaktionslage,
  • alle Stoffwechselreaktionen,
  • Charakteristika der Biorhythmik sowie
  • Veränderungen der Wahrnehmung, Stimmung und Affekte im Krankheitsverlauf
  • und parallel bestehende Begleitsymptome der Beschwerde.

Feststehende Krankheitsentitäten, wie z.B. Diabetes, Magengeschwür, Angststörung, Koronare Herzkrankheit, die mit ihren Leitsymptomen in der klinischen Terminologie definiert sind, werden als diagnostisch orientierende Schwerpunkte genutzt.

Es kommt darauf an, die individuellen Symptome, ihre Gewichtung sowie alle begleitenden Phänomene und Veränderungen der physiologischen Regulation vor dem Hintergrund der jeweiligen Pathologie so genau wie möglich zu erfassen. Daraus lässt sich ein individuelles Abbild aller Symptome und Symptomgruppen und ihrer Entwicklung erstellen, welches die Grundlage der homöopathischen Arzneidiagnose bildet. (siehe Individualisierung).

Erfahrungswerte, welche Arzneimittel bei bestimmten klinischen Zuständen geholfen haben, sind in der homöopathischen Literatur in klinischen Handbüchern und auch teilweise in Repertorien vermerkt. Es handelt sich bei solchen Abhandlungen und Repertoriumsrubriken nicht um Symptome, sondern vielmehr um eine Art Sammelbox, die einen Eindruck von Erfahrungen zu Wirksphären der genannten Arzneien widerspiegeln. Diese kommen diagnostisch nur indirekt bestätigend zum Einsatz. Entscheidend sind stets diejenigen individuellen Symptome des Einzelfalles, welche in Bezug auf die Störung oder Krankheit mit dem zu wählenden Arzneimittel möglichst genau übereinstimmen.

Bedeutung klinischer Diagnosen

Klinische Diagnosen (körperliche Untersuchungsbefunde, Labordiagnostik und bildgebende Verfahren) helfen somit

  • für das Fallverständnis und
  • zur Gewichtung der Symptome,

so wie

  • genaue Befunde zur Beurteilung des Fallverlaufes herangezogen werden und somit
  • zur prognostischen Einschätzung dienen können.

Aktuelle Forschungsergebnisse zu den jeweiligen Krankheiten sind daher eine stets willkommene erweiterte Basis für:

  • eine interdisziplinäre Ausrichtung der homöopathischen Therapiemöglichkeiten und
  • unterstützen eine patientenorientierte Beratung im Einzelfall oft wesentlich.

Hinzu kommen alle bio-psycho-sozialen Zusammenhänge der Symptomentwicklung, welche helfen, die individuelle Reaktionsweise im Kontext der Lebensbedingungen zu verstehen und zu gewichten.

Die klinischen Aspekte allein bilden jedoch keine ausreichende Grundlage für eine homöopathische Arzneiverschreibung.

Am Beispiel: Ein Patient mit Migräne erhält kein Arzneimittel nur aufgrund seiner Kopfschmerzsymptomatik, sondern nach Analyse seines gesamten individuellen Symptommusters, von dem die Migränesymptome nur einen Teil darstellen. Hinzu kommen alle anderen Merkmale seiner vegetativen, hormonellen und immunologischen Regulation sowie alle Aspekte seiner Lebenssituation, die dem Verständnis nutzen, um eine hermeneutische Gewichtung der Zusammenhänge des gesamten Falles vornehmen zu können.

Das führt in der Praxis dazu, dass mehrere Patienten mit der gleichen klinischen Diagnose, im Bsp. Migräne und vielleicht auch ähnlichen Kopfschmerzsymptomen, verschiedene Homöopathika in unterschiedlichen Dosierungen erhalten, da sich ihre Krankengeschichten und ihre individuelle Symptomatik, d. h.:

  • ihre Symptome im Detail,
  • die Umstände ihres Auftretens,
  • der Zusammenhang mit weiteren Beschwerden,
  • der individuelle Fallverlauf und,
  • krankheitsfördernde Belastungen

maßgeblich voneinander unterscheiden. Ändert sich das Symptommuster im Fallverlauf, muss die ausgewählte homöopathische Arznei nach Re-Analyse entweder in der Dosierung angepasst oder durch eine besser passende Arznei ersetzt werden.

Konventionelle Arzneiforschung und Homöopathie

Diese Komplexität erschwert die einfache Anwendbarkeit der konventionellen Arzneimittelforschung nach dem Goldstandard der randomisierten kontrollierten Studie (RCT), welche eng indikationsspezifische Endpunkte setzt und bei der Durchführung eine Randomisierung mit Anonymisierung der Patienten zur Objektivierung erzielbarer Aussagen über spezifische Arzneireaktionen fordert. (Mehr zur evidenzbasierten Medizin - EBM).


[1] Hahnemann verwendet hier oft auch den alten Terminus Zufälle im Sinne von, mit den Beschwerden zusammenfallende Veränderungen, die man nicht kausal aus dem vorliegenden Krankheitsgeschehen ableiten kann.


Quellen und Referenzen

Hahnemann, S. (2017). Organon der Heilkunst (6. Aufl.). Hahnemann Institut für homöopathische Dokumentation. https://archive.org/details/organon-der-heilkunst


Verf.: glt | Rev.: gbh, mnr, sfm, smi | Lekt.: pz | zuletzt geändert 10.04.2025