Das Konzept der Individualisierung

Das Konzept der Individualisierung beschreibt das praktisch-diagnostische Vorgehen und geht von der Entwicklung spezifischer Symptome im Zeitverlauf aus, die es gilt mit allen vorhandenen Hilfsmitteln zu diagnostizieren. Dies geschieht in mehreren, aufeinanderfolgenden Schritten:

Schritt Eins - Fall Evaluation

Step One - Case Evaluation

  • Fallaufnahme mit ausführlicher Krankengeschichte und biographischer Anamnese
  • Eingehende klinische Untersuchung, Status praesens
  • Zusammentragen und Veranlassen aller wesentlichen Fremdbefunde (Labor, bildgebende Verfahren, pädiatrische Entwicklungsberichte, pädagogische Lernberichte, psychologische Berichte)

Schritt Zwei - Fallanalyse

Step two - Case Analysis

  • Entwickeln einer Arbeitshypothese (s.u.) zum individuellen Fall aus holistischer Perspektive (s.d.)
  • Herausarbeiten und Gewichten der individuellen Symptome des Falles - mit anderen Worten, die stabilen Symptome des Falles auswählen, welche die Arbeitshypothese am besten abbilden
  • Auch kann es, gerade bei unvollständigen Daten und Erkenntnissen, wie sie im Praxisalltag vorkommen, mehrere Arbeitshypothesen geben, sodass eine Entscheidung für das weitere Vorgehen getroffen werden muss. Damit sinkt die Verschreibungssicherheit.

Wie entsteht eine Arbeitshypothese?

Die Arbeitshypothese (AH) ist eine ausformulierte Beschreibung des Fallverständnisses. Sie basiert auf der Phänomenologie und dem hermeneutisch erarbeiteten Sinnzusammenhang des Einzelfalles. Hierfür soll die Entstehung und der Verlauf der Störung mit den wesentlichen subjektiven Qualitäten des Zustandes zum Zeitpunkt der Fallaufnahme retrospektiv so genau wie möglich erfasst werden.

Auf diese Weise wird die wahrscheinlichste Annahme zum Fallverständnis zur Arbeitsgrundlage. Daraus können die Symptome, welche den Zustand und seine Entwicklung am besten repräsentieren, mit ihren Modalitäten, Lokalisationen, Empfindungen und Begleiterscheinungen zusammengestellt werden. Mit Hilfe der Arbeitswerkzeuge Repertorium und Materia Medica erfolgt anschließend die homöopathische Diagnose dieser Symptome im Arzneivergleich, um das am besten passende Arzneimittel, mit seinen Entsprechungen in der Materia Medica, auszuwählen.

Die AH wird im Fallverlauf nach Evaluation stetig angepasst. Sie ermöglicht es, im Zeitverlauf des Falles, wenn sie sich als stimmig falsifizieren lässt, eine individuelle Prognose zu erstellen. Dafür soll die Arbeitshypothese so präzise ausgearbeitet sein, dass sie auch falsifizierbar ist.

Schritt Drei – Arzneimittel Diagnose

Step three – Remedy Diagnosis

  • Hierarchisierung der individualisierten Symptome des Krankheitsfalles mittels Materia Media Abgleich – mit anderen Worten, Repertorisation[1] und Materia Medica Studium, d. h.
  • die verglichenen Symptome werden nach ihrem Differenzierungsgrad (Grading) sortiert, auf Vollständigkeit überprüft, klare Modalitäten und Qualitäten der Empfindungen der Materia Medica zugeordnet
  • Häufig ist ein differentialdiagnostischer Vergleich mehrerer, infrage kommender Arzneimittel erforderlich um dann die passendste Arznei, mit der höchsten Übereinstimmung zwischen den Falldaten der AH und der Materia Medica Informationen zu finden.

Zusammenfassung

Zusammengefasst meint Individualisierung des Krankheits-Falles:

  • Das systematische Herausarbeiten des Symptommusters im Einzelfall
  • Erstellen einer Arbeitshypothese des Krankheitsverständnisses
  • Auswahl der die AH repräsentierenden Symptome
  • und Gewichten der stabilen Symptome der Störung für den Arzneivergleich

Hierfür ist die Kenntnis der Symptomentwicklung im Zeitverlauf der Krankengeschichte, also welche Phänomene sich wann und wie, mit- oder gegeneinander entwickelt haben, entscheidend – unabhängig davon ob es sich um eine

  • akute, neu aufgetretene Störung,
  • akute Krise eines chronischen Zustandes oder
  • Progression eines chronischen Krankheits-Verlaufes,

handelt. Auf der Basis dieser methodisch stringenten Vorgehensweise, der Individualisierung des Falles, kann eine systematisch begründete Arzneidifferenzierung erfolgen. Dieser Prozess wird als homöopathische Arzneidiagnose bezeichnet.


[1] Homöopathische Repertorien sind umfassende Lexika, in denen definierte Arzneireaktionen und klinische Symptome den jeweils passenden bekannten Homöopathika in einer Übersicht zugeordnet werden.


Verf.: glt | Rev.: gbh, mnr, sfm, smi | Lekt.: pz | zuletzt geändert 10.04.2025