Prämissen & Selbstverständnis

Die Prämissen der Homöopathie

Hahnemann beschreibt diese in den Grundzügen gleich zu Beginn in seinem Organon der Heilkunst in den ersten sieben Paragraphen. (Hahnemann, 2017, nach der Ausgabe der 6. Aufl. von Richard Haehl 1921)[1]. Das Organon ist, wie damals in solchen Abhandlungen üblich, in Paragraphen verfasst und folgt, bildlich gesehen, dem Aufbau einer Pyramide. Die ersten Paragraphen bilden die Spitze und definieren die Grundzüge der gesamten Therapie. Die genannten Prämissen in den §§ 1 - 7 werden in den weiteren Abschnitten des Organon systematisch weiter ausgeführt und mit einer ausführlichen praktischen Anleitung versehen. Um einen ersten Eindruck zu erlangen, ist es sinnvoll, diese ersten Paragraphen am Stück zu lesen und epistemologisch zu analysieren.

Organon §1

„Der einzige und höchste Beruf des Arztes ist es, kranke Menschen gesund zu machen, was man heilen nennt.“

Organon §2

„Das höchste Ideal der Heilung ist sanfte, dauerhafte Wiederherstellung der Gesundheit und Hebung und Vernichtung der Krankheit in ihrem ganzen Umfang auf dem kürzesten, zuverlässigen und unnachteiligsten Weg, nach deutlich einzusehenden Gründen.“

Organon §3

„Sieht der Arzt deutlich ein, was an Krankheiten das ist, was an jedem einzelnen Krankheitsfalle insbesondere zu heilen ist (Krankheits-Erkenntnis, Indikation), sieht er deutlich ein, was an den Arzneien, d. h. an jeder Arznei insbesondere, das Heilende ist (Kenntnis der Arzneikräfte), und weiß er nach deutlichen Gründen das Heilende der Arzneien dem was er an dem Kranken unbezweifelbar Krankhaftes erkannt hat, so anzupassen, das Genesung erfolgen muss, anzupassen sowohl in Hinsicht der Angemessenheit der für den Fall nach ihrer Wirkungsart geeignetsten Arznei (Wahl des Heilmittels, Indikation), als auch in Hinsicht der genau erforderlichen Zubereitung und Menge derselben (rechte Gabe) und der gehörigen Wiederholungszeit der Gabe: - kennt er endlich die Hindernisse der Genesung in jedem Falle und weiß sie hinwegzuräumen, damit die Herstellung von Dauer sei: so versteht er zweckmäßig und gründlich zu handeln und ist ein echter Heilkünstler.“

Organon §4

„Er ist zugleich ein Gesundheit-Erhalter, wenn er die Gesundheit störenden und Krankheit erzeugenden und unterhaltenden Dinge kennt und sie von den gesunden Menschen zu entfernen weiß.“

Organon §5

„Als Beihilfe der Heilung dienen dem Arzte die Data der wahrscheinlichsten Veranlassung der akuten Krankheit, so wie die bedeutungsvollsten Momente aus der ganzen Krankheits-Geschichte des langwierigen Siechtums, um dessen Grundursache, die meist auf einem chronischen Miasma[2] beruht, ausfindig zu machen, wobei die erkennbare Leibes-Beschaffenheit des (vorzüglich des langwierig) Kranken, sein gemütlicher und geistiger Charakter, seine Beschäftigungen, seine Lebensweise und (Gewohnheiten, seine bürgerlichen und häuslichen Verhältnisse, sein Alter und seine geschlechtliche Funktion, u.s. w. in Rücksicht zu nehmen sind.“

Organon § 6

„Der vorurteillose Beobachter, - die Nichtigkeit übersinnlicher Ergrübelungen kennend, die sich in der Erfahrung nicht nachweisen lassen, - nimmt, auch wenn er der scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufälle, Symptome wahr, das ist, Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken, die dieser selbst fühlt, die die Umstehenden an ihm wahrnehmen, und die der Arzt an ihm beobachtet. Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentieren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange, das ist, sie bilden zusammen die wahre und einzig denkbare Gestalt der Krankheit“

Organon § 7

„Da man nun an einer Krankheit, von welcher keine sie offenbar veranlassende oder unterhaltende Ursache (Causa occasionalis) zu entfernen ist sonst nichts wahrnehmen kann, als die Krankheits-Zeichen, so müssen, unter Mithinsicht auf etwaiges Miasm und unter Beachtung der Nebenumstände (§ 5.), es auch einzig die Symptome sein, durch welche die Krankheit die, zu ihrer Hilfe geeignete Arznei fordert und auf dieselbe hinweisen kann - so muss die Gesamtheit ihrer Symptome, dieses nach außen reflektierte Bild des inneren Wesens der Krankheit, d. h. des Leidens der Lebenskraft, das Hauptsächlichste oder Einzige sein, wodurch die Krankheit zu erkennen geben kann, welches Heilmittel sie bedürfe, - das Einzige, was die Wahl des angemessensten Hilfsmittels bestimmen kann - so muss, mit einem Worte, die Gesamtheit der Symptome für den Heilkünstler das Hauptsächlichste, ja Einzige sein, was er an jedem Krankheitsfalle zu erkennen und durch seine Kunst hinweg zunehmen hat, damit die Krankheit geheilt und in Gesundheit verwandelt werde.“

Vorgaben des Organon aus epistemologischer Perspektive

Wie den Ausführungen in ihrem 200 Jahre alten, insgesamt etwas gewöhnungsbedürftigen „wuchtig-knorzigen“ Sprach- und Schreibstil zu entnehmen ist, basiert die Praxis der Homöopathie auf mehreren, miteinander verbundenen Vorgaben. Aus epistemologischer Perspektive definiert das Organon in diesem Abschnitt:

  1. Die ethische Basis jedes ärztlichen Handelns als Hilfe zur Heilung (§1)
  2. Die idealerweise so anhaltend und schonend wie möglich, auf dem kürzesten und zuverlässigsten Wege die Widerherstellung der Gesundheit ermöglichen soll und auf rationalen Prinzipien beruhen müsse (§2)
  3. Die systematische Vorgehensweise, von der Diagnose zur Therapie, wobei das individualisierte Vorgehen am einzelnen Patienten, die genaue Kenntnis von Arzneimittelreaktionen und das individuelle Monitoring im Therapieprozess mit den erforderlichen Anpassungen der Arzneigaben und ebenso der ganzheitliche Blick auf individuelle Therapiehindernisse betont werden (§3).
  4. Die Implikation eines salutogenetischen Ansatzes in der Behandlung (§4)
  5. Die Notwendigkeit einer umfassenden Datenexploration, welche neben der akuten und chronischen Symptomatik auch die exakte Erforschung möglicher Ansteckungen mit chronifizierten Verläufen, konstitutioneller Beschaffenheiten, psychosomatischer Aspekte und bio-psycho-sozialer Einflussfaktoren erfasst (§5).
  6. Die primär phänomenologische Arbeitsweise, alle Falldaten einschließlich einer Fremdanamnese, mit einem gestalttheoretischen Ansatz zu analysieren, welcher neben Symptomen auch alle Merkmale einer gestörten Regulation sowie individuelle Ereignisse im Zusammenhang mit den Beschwerden, erfasst (§6).
  7. Das Erfordernis, die Diagnostik und Arzneitherapie an einer holistischen Denkweise auszurichten. Dazu gehören alle Zeichen und Symptome des Einzelfalles, als Repräsentanten der Störung systematisch nach den Vorgaben einer umfassenden Datenexploration (§5), als Grundlage einer individuellen Arzneitherapie auszuwerten.

Konklusionen für Diagnostik und Therapie

Zusammenfassend lassen sich daraus die übergreifenden Konklusionen zur Diagnostik und Therapie ableiten, die in den weiteren Paragraphen des Organon abgehandelt werden:

  • Behandlungsauftrag und minimal invasiv schonende Vorgehensweise als ethische Basis
  • primär phänomenologische Diagnostik des gesamten Falles
  • Individualisierung des Krankheitsgeschehens
  • Arzneidiagnose nach dem Simile-Konzept (Ähnlichkeitsprinzip)
  • Verordnung von Einzelmitteln
  • Beachten aller hygienischen Regeln zur Gesunderhaltung, im Sinne der Salutogenese
  • Prozessanalyse des Krankheitsverlaufes mit Re-Evaluation (später erfolgte eine systematische Erweiterung durch Constantin Hering)

Diese Elemente gehören seit Begründung durch Samuel Hahnemann zum praktischen Grundverständnis der Homöopathie. Sie wurden im Verlaufe der methodischen Entwicklung des ersten Jahrzehnts der Homöopathie-Geschichte, um zwei weitere Aspekte ergänzt:

  • Arzneiherstellung durch Potenzierung, d. h. die Aufschlüsselung von Arzneiwirkung durch Verdünnen und Verwirbeln durch Schütteln, nach einer eigens entwickelten Methodik
  • Das Konzept der adäquaten Dosis, eine am individuellen Befund orientierte Applikation von kontrollierten Einzelgaben nach dem Prinzip „so wenig wie möglich, so viel wie nötig“

Das Selbstverständnis der Homöopathie

Aus den Prämissen der Homöopathie ergibt sich das Konzept einer eigenständigen und empirisch begründeten holistischen Arzneitherapie mit einem differenzierten und komplexen Arzneiverordnungs- und Evaluationskonzept. In seinem dafür verfassten therapeutischen Leitfaden, dem Organon der Heilkunst, entwickelte Hahnemann in sechs Auflagen von 1810 bis 1842 (Hahnemann, 2003) eine dezidierte Anleitung zur Therapie-Praxis, die sich vereinfacht zur Übersicht in mehrere Abschnitte, mit folgenden Schwerpunkten, unterteilen lässt:

  • Grundzüge und Ethik ärztlicher Aufgaben (§1, §2, §17)
  • Definition und Prinzipien in der arzneilichen Behandlung (§§ 19-34)
  • Diagnostische Prinzipien der Arzneiwahl (§§ 83-104)
  • Grundzüge systematischer Arzneiversuche (§§ 105-120) und ihre Durchführung (§§ 121-142)
  • Evaluationskonzept für die Arzneimittel Therapie (§§ 143-145)
  • Empirische Konzepte klinischer Verifikation (§§ 146-171)
  • Therapeutische Besonderheiten in bestimmten Behandlungssituationen (§§ 172-244)
  • Konzept für Fall-Verlaufsanalysen und Therapieregeln (§§ 245-263)
  • Herstellungs- und Aufbereitungsprinzipien für Arzneien (§§ 264-271)
  • Verordnungsregeln und Einnahmevorschriften (§§ 272-285)

Die Ergebnisse der empirischen Forschung beschrieb Hahnemann vorrangig in Form einer systematischen Methodik und machte so das homöopathische Prinzip als medizinische Arzneitherapie erstmals praktizierbar[3].

Die definierten Grundannahmen der Homöopathie wurden von Hahnemann allerdings axiomatisch aufgestellt. Dabei kümmerte er sich nicht sonderlich um die wissenschaftlichen Begründungsmöglichkeiten seiner Zeit, er hielt Vieles für „Ergrübelungen“ (Org. §28) und vertrat vielmehr einen rein empirischen Forschungsstandpunkt.

Aus medizinhistorischer Sicht ist diese Haltung gut verständlich. Hahnemanns Epoche kann aus heutiger Sicht als Phase präwissenschaftlicher Theoriebildung verstanden werden. Während sich auf der Grundlage der empirischen Kausalitätskonzeption[4] von David Hume (1711-1776) Analogismen als Wahrscheinlichkeitsschlussfolgerungen etablierten, waren viele Denkstrukturen wissenschaftlicher Vorgehensweise noch in der Scholastik[5] verhaftet.

Die Differenzmethodik deduktiver und induktiver Logik, welche eine Basis der heutigen Wissenschaftstheorie formten, wurden vor allem von John Stuart Mill[6] erst Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt.

Gerade in der Medizin fanden sich während der napoleonischen Ära (1792-1815) eine Vielzahl verschiedenster, sich wandelnder Vorstellungen mit uneinheitlicher und gegensätzlicher Theoriebildung. Zudem waren weder die Methodik noch das Vokabular für einen komplexen holistischen Ansatz, wie es heute möglich ist, vorhanden.

Die theoretischen Argumentationen Hahnemanns zu den Fragen nach Gesundheit und Krankheit können deshalb zu seinen Zeiten als eine Herausforderung für eine Umbruchphase wissenschaftlichen Denkens in der Medizin verstanden werden. Interessanterweise stellen die Prämissen der Homöopathie bis heute eine wissenschaftliche Herausforderung dar, wenn auch aus anderen Gründen, wie im Weiteren ausgeführt werden wird.

Vorwegnehmend kann die Arbeitshypothese aufgestellt werden, dass die Vertreter der Homöopathie erfolgreich therapieren können, solange sie sich in der praktischen Anwendung konkret auf die Anleitung des Organons beziehen. Nur lässt sich auf dieser Grundlage allein, sozusagen „aus sich selbst heraus“, wie es immer wieder versucht wurde, nichts Wesentliches zur wissenschaftlichen Entwicklung der Homöopathie und des Verständnisses der Methodik beitragen.

Auch diesem Grunde wird der Streit um die Prämissen der Homöopathie seit ihrer Erstbeschreibung und in jeder nachfolgenden Epoche primär paradigmatisch geführt.

Die Grundannahmen der Homöopathie werden nachfolgend kurz zusammengefasst und aus epistemologischer Perspektive analysiert. Die paradigmatischen Streitpunkte werden gesondert herausgestellt, ihre zugrunde liegenden Annahmen diskutiert und ihre Konklusionen differenziert. Ziel ist es, Grundlagen für einen konstruktiven Diskurs und eine sinnvolle Forschungsentwicklung zu schaffen.


[1] Die Paragraphen des Organon (Die erste Auflage entstand 1810) wurden vom Verfasser teils sprachlich geglättet, um sie in eine etwas verständlichere und zeitgemäße Sprache zu übertragen.

[2] Der Terminus Miasma meint seit der Antike übertagbare Krankheit. Hahnemann benutzt den Begriff im Sinne der Ansteckung, was in der vormikrobiologischen Ära seiner Zeit als Synonym für Infektionen üblich war.

[3] Für das eingehende und weiterführende Studium dieser Grundlagen siehe die Neubearbeitung des Organon mit Systematik und Glossar von Josef M. Schmidt (Hahnemann, 2003), der Organon Kommentar von Matthias Wischner (Wischner, 2011) und die Organon Synopse zur historischen Analyse der Organon Entwicklung von Luft & Wischner (Hahnemann, 2001).

[4] Wenn auf B regelhaft A folgt, kann A als Ursache von B - als Wirkung - bezeichnet werden. Das immerwährende und sichere Aufeinanderfolgen von Wirkung B auf Ursache A bildet die Basis, wobei erkenntnistheoretisch erst die Wiederholbarkeit des Experimentes A zur Ursache von Wirkung B macht. (Hume, 1978)

[5] Historisches Wörterbuch der Schweiz online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011414/2012-11-21 (Imbach, 2012)

[6] System der deduktiven und inductiven Logik: Eine Darlegung der Prinzipien wissenschaftlicher Forschung, insbesondere der Naturforschung (Mill, 1868). Online: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Mill,+John+Stuart/System+der+deduktiven+und+induktiven+Logik


Quellen und Referenzen

  • Hahnemann, S. (2001). Organon-Synopse: Die 6 Auflagen von 1810 - 1842 im Überblick (B. Luft & M. Wischner, Hrsg.). Haug.
  • Hahnemann, S. (2003). Organon der Heilkunst: Aude sapere (J. M. Schmidt, Hrsg.; 1. Aufl.). Elsevier, Urban & Fischer.
  • Hahnemann, S. (2017). Organon der Heilkunst (6. Aufl.). Hahnemann Institut für homöopathische Dokumentation. https://archive.org/details/organon-der-heilkunst
  • Hume, D. (1978). A treatise of human nature (P. H. Nidditch, Hrsg.; 2.). Oxford, United Kingdom: Clarendon Press; New York, United States : Oxford University Press. https://archive.org/details/treatiseofhumann0000hume_b5g6
  • Imbach, R. (2012). Scholastik. In Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011414/2012-11-21/
  • Mill, J. S. (1868). System der deduktiven und inductiven Logik: Eine Darlegung der Prinzipien wissenschaftlicher Forschung, insbesondere der Naturforschung. http://www.zeno.org/nid/20009226567
  • Wischner, M. (2011). Organon-Kommentar: Eine Einführung in Samuel Hahnemanns Organon der Heilkunst; mit einem Glossar zeitgenössischer Begriffe (2., bearb. Aufl). KVC Verl.

Verf.: glt | Rev.: gbh, mnr, sfm, smi | Lekt.: pz | zuletzt geändert 10.04.2025