Die Schritte zur homöopathischen Materia Medica

Sämtliche Informationen zu allen gesammelten Arzneireaktionen wurden und werden einer ausführlichen Arzneimitteldokumentation zugeführt, der homöopathischen Materia Medica (s. a. Die erste homöopathische Materia Medica). Die Informationen kommen aus unterschiedlichen Quellen:

  1. Selbstversuche[1]
  2. Systematische Arzneimittelversuche
  3. Toxikologische Fallberichte und Informationen
  4. Datenanalysen aus Krankenberichten
  5. Ergebnisse aus Arzneimittelstudien[2]

Hierfür stehen aktuell Informationen aus rund 220 Jahren Literaturveröffentlichungen in Sammelwerken, der Standardliteratur und Informationen aus historischen Fachzeitschriften mit Publikationen zu Fallbeobachtungen sowie ergänzende Ergebnisse aus 20-25 Jahre Arzneimittelstudien nach EBM-Kriteren zur Verfügung.

Zunächst sollen anhand der bestehenden Forschungskriterien die fachspezifischen Besonderheiten der klinisch-homöopathischen Arzneiforschung erläutert werden.

Die Auswertung einer solchen unübersichtlichen Datenmenge bedarf einer separaten Analyse mit validen Kriterien

Phase I – Systematische Arzneiversuche in Testreihen

Historisch gesehen ist es bemerkenswert, dass die ersten systematischen Arzneiversuche an gesunden Probanden tatsächlich von Homöopathen gemacht wurden.

Dies geschah und geschieht meist an kleinen Kohorten (einzelne Personen und kleine Gruppen, n = 3-20) mit Probanden geübter Beobachter, welche ihre physiologischen Reaktionen auf die Einnahme von Testdosen einer Arznei dokumentieren. Diese werden anschließend von einem Versuchsleiter ausgewertet und dokumentiert.

Derartige Arzneiversuche bildeten die erste Basis der praktischen Anwendung am Kranken (Organon §§ 105-145).

Aufgrund der Versuchsanordnung mit einem rein phänomenologischen Schwerpunkt ist die größte Fehlerquelle mit der Unschärfe verbunden, ob sich die an freiwilligen gesunden Probanden ermittelten Reaktionen „eins zu eins“ auf die Reaktionsweise von Kranken übertragen lassen. Eine weitere Frage ist, bei welchen Störungen welche Arzneireaktionen tatsächlich differentialdiagnostisch wichtig sind.

Toxikologische Berichte

Toxikologische Berichte sind im Grunde ungewollte und in der Regel unsystematische Beobachtungen. Sie stammen einerseits aus Sammlungen von Fallberichten historischer Veröffentlichungen (Bsp. Oenathe crocata Vgl. Allen, 1877, Band 5, S. 1–17) und basieren andererseits auch auf dem zunehmenden pharmakologischen Verständnis für Wirkzusammenhänge durch Forschungsergebnisse der jeweiligen Zeitepoche, weshalb sie auch pathophysiologische Erklärungshilfen liefern können (Bsp. pharmakologisch klinische Ergänzungen bei J. Mezgers Gesichtete homöopathische Arzneimittellehre (Mezger, 2017)

Sie ergänzen Symptome, die über Arzneiversuche aus ethischen Gründen nicht gewonnen werden können, jedoch für die homöopathische Behandlung klinisch durchaus relevant sind (Bsp. Hydrocyanum acidum vgl. Allen, 1878, Band 7, S. 128–137)

Die größte Unschärfe resultiert bei Vergiftungsberichten häufig aus den oft nur grob gefassten und wenig individualisierbaren Informationen. Sind nur unspezifische Beschreibungen vorhanden, geben diese zumindest eine Übersicht über die pathologische Wirksphäre der jeweiligen Substanz.

Teilweise können historische Quellen auch zweifelhaft sein und bedürfen einer erneuten Glaubwürdigkeitsanalyse (Bsp. Tarentula hispanica von Nunez; Lucae, 2006; vgl. Allen, 1879, Band 9, S. 516–547).

Phase II und III – Anwendung am Kranken

Es ist verständlich, dass Sammlungen über einen Zeitraum von 220 Jahren qualitativ uneinheitlich und von sehr unterschiedlicher Präzision sind. Einheitliche und systematische Auswertungskriterien fehlten bisher, sind jedoch im Rahmen einer aktuellen Materia Medica Forschung in einer fortschreitenden Weiterentwicklung[3].

Die erste therapeutische Versuchsphase und klinische Verifikation fallen daher historisch bedingt zusammen[4].

Dokumentation und Quellen

Zur Verfügung stehen neben den großen Quellen der Homöopathie-Literatur - in erster Linie C. Herings Guiding Symptoms of Materia Medica - Einarbeitungen von klinischen Erfahrungen in die wesentlichen Repertorien, zahlreiche differenzialdiagnostische Kompendien sowie eine Fülle noch nicht ausreichend gesichteter Publikationen in Fachzeitschriften. Prinzipiell handelt es sich bei den historischen Quellen um:

  • Einfache Krankenberichte (des 19. Jahrhunderts), welche eine Arzneireaktion am Kranken bestätigen.
  • Eingehende Einzelfall-Kasuistiken, welche auch eine Analyse der Wirksphäre ermöglichen.
  • Systematische Erfahrungsberichte aus Epidemien, diese liegen historisch bedingt nur eingeschränkt vor, wenn dann zumeist als systematische Erfahrungsberichte aus Epidemien.

Der große Nutzen liegt in den Ergänzungen der Materia Medica durch dokumentierte Arzneireaktionen unter klinisch-pathologischen Bedingungen. Diese sind wesentlich, um die praktische Bedeutung der Arzneien in der Verwendung klinisch korrekt einzuschätzen. Hierzu gehören:

  • Die Verifikation von Arzneireaktionen aus Arzneiversuchen (Phase I)
  • Verifikation und ggf. Falsifikation von Arzneireaktionen am Kranken, die in der Behandlung auftreten bzw. Symptome, die auf das Arzneimittel reagieren und vorher noch nicht bekannt waren, sog. Klinisch verifizierte Symptome (KVS), die Erfahrungen aus Phase II und III.

Daraus ergeben sich die Wirksphären klinischer Beeinflussbarkeit, was bei einer phänomenologischen Arbeitsweise natürlich bedeutsam ist. Wie zentral solche Auswertungen sind, zeigen bereits historische Dokumentationen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert.

Das berühmte Fallbeispiel Burnetts

Als Beispiel möge der bekannte Fall von J. C. Burnett (1840-1901) dienen, der ein Mädchen mit rezidivierenden Kopfschmerzen erfolgreich mehrfach aufgrund der exakt passenden Phänomenologie mit Belladonna behandelte. Als das Mädchen unerwartet starb, stellte die Autopsie eine tuberkulöse Meningitis als Krankheitsursache fest, die damals rein phänomenologisch nicht zu ermitteln war.

Die logisch korrekte Schlussfolgerung Burnetts war, dass trotz passender Phänomenologie keine Sicherheit bestehe, dass die Reaktion auf ein Arzneimittel kurativ sei, wenn das Arzneimittel für die vorliegende Pathologie keine ausreichende Ähnlichkeit zum pathologischen Prozess aufweisen würde, was er als Haltepunkt der Arznei definierte (Burnett, 1994, S. 123 f.).

Anforderungen an Praxis und Forschung

Es ist einsichtig, dass unklare Kriterien mit geringer Vergleichbarkeit von Heilungs- und Linderungseffekten zu Unsicherheiten führen und einen konkreten Forschungsbedarf definieren. Leitfragen sind: Welche Störungen und Krankheiten können in ihrem Verlauf kurativ oder palliativ günstig therapiert werden? und folgend: Mit welcher Fallanalysestrategie und Vorgehensweise kann dies am besten und zuverlässigsten erfolgen?

Dies bringen auch schon die Definitionen von kurativen und palliativen Reaktionen mit sich, welche sich im Laufe von 220 Jahren aufgrund sich ändernder Anforderungen an präzise Nachweise für definierte Arzneireaktionen mit wachsendem Wissen verändert haben.

Teilweise kann dies auch durch Arzneistudien nach aktuellen EBM-Kriterien nachgeprüft werden, welche in qualitativ hochwertigen Studien indikationsspezifische Bestätigungen liefern. Die Komplexität der Randomized controlled Trial (RCT) und Pragmatic-Controlled Trial (PCT) Designs stellt hierfür eine zusätzliche methodische Herausforderung dar, die in der Homöopathie-Forschung einer gesonderten Analyse bedarf.

Zum anderen wird ein differenziertes Analysewerkzeug benötigt, welches möglichst verlässliche Ergebnisse - auf einer wissenschaftlich begründeten Basis - überprüfbar konzipiert und beständig weiterentwickelt wird.

Phase IV – Verifikation im Praxisalltag

Hierzu gehören alle Auswertungen und Zusammenstellungen von Heilungsberichten in der historischen Fachliteratur, insbesondere diejenigen, welche zu den Standardwerken der homöopathischen Arzneimittellehre und zu den zahlreichen klinischen Kompendien geführt haben.

Der große Nutzen dieser Daten liegt in der Verifikation der Ergebnisse von Arzneiversuchen durch REAL WORLD DATA - immer wieder praktisch gesammelter Erfahrungen. Auch wenn diese aus historischen Gründen nicht den aktuellen Kriterien für Forschungs- und Auswertungsdesigns entsprechen, stellen sie unzweifelhaft einen soliden Wissensschatz einer über 220 Jahre dokumentierten Erfahrungsheilkunde dar. Methodisch bedingt sind die Daten stabil und verlässlich. Die Auswertung dieses Materials erfordert allerdings eine differenzierte Analysemethodik.

Analyse von Literaturdaten

Infrage kommen alle wesentlichen Quellen zur Arzneimittellehre, Kompendien, Handbücher, Symptomensammlungen und Nachschlagewerke, Repertorien und Fallberichte.

Die Anzahl der Homöopathie-spezifischen Literatur ist allerdings unübersichtlich groß. Nicht alle Autoren haben sich im Laufe der vergangenen 220 Jahre an die wissenschaftlichen Konzepte ihrer Zeit gehalten. Weiterhin fehlt vielen Quellen der Zusammenhang mit einer exakten Methodik.

Aus diesem Grunde ist eine Quellen-Prüfung mit hoher Expertise notwendig, um eine Reliable Sources Quellensammlung festzulegen. Dies gilt gerade auch für die zahlreichen Veröffentlichungen seit den 1990ern. „Homöopathie“ ist kein geschützter Begriff, weshalb viele „homöopathische" Veröffentlichungen“ tatsächlich wenig mit Homöopathie gemeinsam haben, sondern eher Meinungen der Autoren „über“ und ihre persönlichen Vorstellungen „von“ widerspiegeln.


[1] Es sind in der Literatur gerade aus der Anfangsphase der Homöopathie viele Selbstversuche beschrieben, welche zur Entwicklung der Methode beigetragen haben, systematische Arzneiversuche durchzuführen.

[2] Diese Möglichkeit steckt noch einen Kinderschuhen und wird noch nicht systematisch genutzt.

[3] Dies geschieht auf der Basis der Auswertungen des Materia Medica Pura Projektes (MMPP) in Zusammenarbeit mit der CHS. Weitere Information zum Materia Medica Pura Projekt auf der Website: https://mmpp-saine.com/mmpp/.

[4] Die EBM-basierte Forschung, die sich seit Mitte der 1990er Jahre etabliert hat, wird gesondert abgehandelt.


Quellen und Referenzen

  • Allen, T. F. (1877). The encyclopedia of pure materia medica: A record of the positive effects of drugs upon the healthy human organism (Bd. 5). Boericke & Tafel. http://resource.nlm.nih.gov/64240040RX5
  • Allen, T. F. (1878). The encyclopedia of pure materia medica: A record of the positive effects of drugs upon the healthy human organism (Bd. 7). Boericke & Tafel. http://resource.nlm.nih.gov/64240040RX5
  • Allen, T. F. (1879). The encyclopedia of pure materia medica: A record of the positive effects of drugs upon the healthy human organism (Bd. 9). Boericke & Tafel. http://resource.nlm.nih.gov/64240040RX5
  • Burnett, J. C. (with Chitkara, H. L.). (1994). Best of Burnett (Repr). Jain.
  • Hahnemann, S. (2017). Organon der Heilkunst (6. Aufl.). Hahnemann Institut für homöopathische Dokumentation. Abgerufen 16. März 2025, von https://archive.org/details/organon-der-heilkunst
  • Hering, C. (1879). The guiding symptoms of our materia medica (C. G. Raue, C. B. Knerr, & C. Mohr, Hrsg.; Bde. 1–10).
  • Lucae, C. (2006). „Von der Tarantel gestochen”? Zeitschrift für Klassische Homöopathie, 50(2), 71–79. https://doi.org/10.1055/s-2006-932337
  • Mezger, J. (2017). Gesichtete homöopathische Arzneimittellehre (U. Fröhlich, Hrsg.; 13., vollständig bearbeitete Auflage, Bde. 1–2). Karl F. Haug Verlag.

Verf.: glt | Rev.:  sfm, bga | Lekt.: pz | zuletzt geändert 8.06.2025