Die Perspektive der Gestalttheorie der Homöopathie

Hahnemann benutzt an zentralen Stellen in seinen Schriften den Gestaltbegriff, interessanterweise wie eine Vorahnung in einer Richtung, wie er über 100 Jahre später von Ehrenfels, Wertheimer und Kafka entwickelt wurde, weshalb eine theoretisch-konzeptionelle Aufarbeitung aus dieser Perspektive hilfreich erscheint.

Krankheitserkenntnis (Org. §§ 5-18)

§ 6 – „Der vorurteillose Beobachter, - die Nichtigkeit übersinnlicher Ergrübelungen kennend, die sich in der Erfahrung nicht nachweisen lassen, - nimmt, auch wenn er der scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufälle, Symptome wahr, das ist, Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken, die dieser selbst fühlt, die die Umstehenden an ihm wahrnehmen, und die der Arzt an ihm beobachtet. Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentieren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange, d. h., sie bilden zusammen die wahre und einzig denkbare Gestalt der Krankheit [Mark. d. Verf.]“ (Hahnemann, 2017, nach der Ausgabe der 6. Aufl. von R. Haehl 1921) [Sprachliche Glättung durch den Verfasser]

Fallaufnahme (Org. §§ 82-104)

§91 – „Die Zufälle und das Befinden des Kranken, während eines etwa vorgängigen Arzneigebrauchs, geben nicht das reine Bild der Krankheit; diejenigen Symptome und Beschwerden hingegen, welche er vor dem Gebrauche der Arzneien oder nach ihrer mehrtägigen Aussetzung litt, geben den ächten Grundbegriff von der ursprünglichen Gestalt der Krankheit [Mark. d. Verf.], und vorzüglich diese muss der Arzt sich aufzeichnen.

Er kann auch wohl, wenn die Krankheit langwierig ist, den Kranken, im Fall er bis jetzt noch Arznei genommen hatte, einige Tage ganz ohne Arznei lassen, oder ihm indes etwas Unarzneiliches geben und bis dahin die genauere Prüfung der Krankheitszeichen verschieben, um die dauerhaften, unvermischten Symptome des alten Übels in ihrer Reinheit aufzufassen und danach ein untrügliches Bild von der Krankheit entwerfen zu können.“

§ 92 – „Ist es aber eine schnell verlaufende Krankheit, und leidet ihr dringender Zustand keinen Verzug, so muss sich der Arzt mit dem, selbst von den Arzneien geänderten Krankheitszustande begnügen, wenn er die, vor dem Arzneigebrauche bemerkten Symptome nicht erfahren kann, - um wenigstens die gegenwärtige Gestalt [Mark. d. Verf.] des Übels, das heißt, die mit der ursprünglichen Krankheit vereinigte Arzneikrankheit, welche durch die oft zweckwidrigen Mittel gewöhnlich beträchtlicher und gefährlicher als die ursprüngliche ist, und daher oft dringend eine zweckmäßige Hülfe erheischt, in ein Gesamtbild zusammenfassen und, damit der Kranke an der genommenen schädlichen Arznei nicht sterbe, mit einem passend homöopathischen Heilmittel besiegen zu können.“

(Hahnemann, 2017, nach der Ausgabe der 6. Auflage von R. Haehl 1921) [Sprachliche Glättung durch den Verfasser]

Arzneiforschung (Org. §§ 105-145)

§119 – „So gewiss jede Pflanzenart in ihrer äußeren Gestalt in der eignen Weise ihres Lebens und Wuchses [Mark. d. Verf.], in ihrem Geschmacke und Geruche von jeder andern Pflanzen-Art und Gattung, so gewiss jedes Mineral und jedes Salz in seinen äußeren sowohl, als inneren physischen und chemischen Eigenschaften (welche allein schon alle Verwechselung hätten verhüten sollen) von dem andern verschieden ist, so gewiss sind sie alle unter sich in ihren krankmachenden - also auch heilenden - Wirkungen verschieden und voneinander abweichend (§ 145).

Jede dieser Substanzen wirkt auf eine eigne, verschiedene, doch bestimmte Weise, die alle Verwechselung verbietet, und erzeugt Abänderungen des Gesundheitszustandes und des Befindens der Menschen (§ 146).“

(Hahnemann, 2017, nach der Ausgabe der 6. Auflage von R. Haehl 1921) [Sprachliche Glättung durch den Verfasser]

Die Vorstellungen hinter diesen Aussagen sind weitreichend und mit den grundlegenden Theoremen der Gestalttheorie durchaus vereinbar. Hierzu gehören wesentlich folgende Hypothesen:

  1. Übersummativität, die unverwechselbare individuelle Eigenheit einer Gestalt, homöopathisch über das Erfassen des charakteristischen Reaktionsmusters stets als zusammengehörendes Ganzes
  2. Summationstheorem, die Unvereinbarkeit der Gestaltwahrnehmung durch einfache Addition von Teileigenschaften - die Gestalt ist mehr und etwas anderes als die Summe seiner Teile – was homöopathisch über die Individualisierung der Störung / Krankheit erarbeitet wird
  3. Parallelismus, es wird eine sinnvolle Zuordnung zwischen Gestalten systematisch erarbeitet – Bedingung ist der konkrete Parallelismus nach dem Prinzip der Strukturverwandtschaft - homöopathisch abgebildet durch die Ähnlichkeit zwischen Krankheitssymptomen und Arzneireaktionen
  4. Transportierbarkeit, meint die prüfbare Übertragbarkeit der Gestalt-Eigenschaften, homöopathisch über das Monitoring der Arzneireaktion im konkreten Behandlungsfalle

Zusammenfassung von Hahnemanns Gestaltbegriff

Die epistemologische Analyse der Organon Auszüge ergibt somit aus gestalttheoretischer Perspektive:

  1. Das grundlegende Krankheitsverständnis beschreibt Hahnemann so, dass Symptommuster von Störungen und Krankheiten, alle wahrnehmbaren und beobachteten Phänomene, „…erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufälle, Symptome…“ Abweichungen vom vorherigen „gesunden“ Zustand seien. Diese Veränderungen bilden für sich eine Gestalt, die es im ganzen Umfange zu erfassen gelte.
  2. Sind durch die Einnahme von Medikamenten deutliche Veränderungen im Symptommuster aufgetreten, und ist das phänomenologische Erscheinungsbild verfälscht oder verwischt, soll durch Aussetzen (oder Reduktion) der Medikation eine Annäherung an den eigentlichen Zustand erreicht werden, um die eigentlichen Symptommuster in ihrer Zusammensetzung und Gewichtung, die ursprüngliche Gestalt, so genau wie möglich abzubilden.
  3. Hahnemann nennt allerdings eine ethische Beschränkung: In akuten oder bedrohlichen Fällen, wo diese Vorgehensweise nicht möglich ist, soll der jeweils aktuelle Zustand, der sich durch die Anbehandlung ergeben hat, als der Mischung von Krankheitssymptomen und Arzneiwirkung, zum Einstieg in den Fall, analysiert werden.
  4. Ebenso werden die spezifischen Arzneireaktionen von pflanzlichen und mineralischen Substanzen, aus denen Arzneien hergestellt werden, ebenfalls in ihren Erscheinungsformen und Zusammensetzungen und damit in ihren unverkennbaren individuellen Wirkungen, als arzneispezifische Gestalt aufgefasst und beschrieben.

Gestaltwandel und Krankheit

Aus dieser Herleitung ist leicht verständlich, dass Krankheit aus homöopathischer Sicht als eine komplexe Regulationsstörung verstanden wird.

Veränderungen und Wandel im Symptombild des Patienten, z.B. eine Kopfschmerzsymptomatik verschwindet und eine chronische Darmentzündung entwickelt sich, werden im Sinne eines solchen Prozessverständnisses folglich als zusammengehörend analysiert und nicht als getrennte Entitäten betrachtet, die von Facharzt zu Facharzt weitergereicht und unabhängig voneinander diagnostiziert und therapiert werden sollen.

Die Beschränkung auf ein reduktionistisches Gesundheits- und Krankheitsmodell, welches den Patienten in reparierbare Einheiten zerlegt, erscheint auf diesem Hintergrund als eine unnötige und wissenschaftlich nicht erforderliche Beschränkung.

Dies spiegelt sich ebenfalls in den Forschungsansätzen der Psychosomatik und der Psycho-Neuro-Immuno-Endokrinologie sowie in den grundlegenden Arbeiten zum bio-psychosozialen Modell wider, welche die umfassenden Wechselwirkungen des Organismus mit der Umwelt als Ganzes und die Wichtigkeit eines regulativen Verständnisses von Krankheitsverläufen wissenschaftlich heraus-arbeiten und damit den Übergang in eine komplexes Gesundheits- und Krankheitsverständnis, paradigmatisch betonen (s.d.).

Bedeutung für die Praxis

Ein derart umfassendes und tiefgehendes Krankheitsverständnis setzt für die praktische Tätigkeit umfassende medizinische und psychologische Kenntnisse, Grundwissen über Konzepte zur Phänomenologie an sich und detaillierte Kompetenzen im Umgang mit den homöopathischen Analysewerkzeugen[1] sowie einen weiten Blick für die Lebensumstände und -bedingungen des Patienten voraus. In der Summe bilden sie die Grundlage der ganzheitlichen individuellen Behandlung.

Ebenso ist eine besondere Bildung in Gesprächsführung und professioneller Fall-Dokumentation erforderlich (s.d.).

Gestaltwandel und Vikariation

Der Gestaltwandel (Metaschematismus[2]) und das Konzept der Vikariation ( das Stellvertretersymptom) sind als empirisch hergeleitetes Konzept im Denken Hahnemanns verankert und im Organon der Heilkunst in den Paragraphen §201 – §203 beschrieben[3]. (Hahnemann, 2017 nach der Ausgabe der 6. Aufl. von R. Haehl von 1921)[4]

§ 201

„Offenbar entschließt sich (instinktartig) die menschliche Lebenskraft, wenn sie mit einer chronischen Krankheit beladen ist, die sie nicht durch eigene Kräfte überwältigen kann, zur Bildung einer Lokalsymptomatik an irgendeinem äußern Teile, bloß aus der Absicht, um, durch Krankmachung und Krankerhaltung dieses zum Leben des Menschen nicht unentbehrlichen äußern Teils, jene außerdem die Lebensorgane zu vernichten und das Leben zu rauben drohende, innere Erkrankung zu beschwichtigen und, so zu sagen, auf eine stellvertretende Lokalsymptomatik zu überzutragen, es dahin gleichsam abzuleiten. Die Anwesenheit der Lokalsymptomatik, bringt auf diese Art die innere Krankheit vor der Hand zum Schweigen, ohne sie jedoch weder heilen, noch wesentlich vermindern zu können*. Indessen bleibt immer die Lokalsymptomatik weiter nichts, als ein Teil der gesamten Krankheit, aber ein, von der organischen Lebenskraft einseitig vergrößerter Teil derselben, an eine gefahrlosere (äußere) Stelle des Körpers hin verlegt, um das innere Leiden zu beschwichtigen. Es wird aber wie gesagt, durch dieses, die innere Krankheit zum Schweigen bringende Lokalsymptomatik, von Seiten der Lebenskraft für die Minderung oder Heilung der gesamten inneren Erkrankung so wenig gewonnen, dass im Gegenteil dabei das innere Leiden dennoch allmählich zunimmt und die Natur genötigt ist, die Lokalsymptomatik immer mehr zu vergrößern und zu verschlimmern, damit es zur Stellvertretung für die innere, verstärkte innere Erkrankung und zu seiner Beschwichtigung noch zureiche. Die alten Schenkelgeschwüre verschlimmern sich, bei nicht geheilter, innerer Psora[5], der Schanker vergrößert sich bei noch nicht geheilter, innerer Syphilis und die Feigwarzen vermehren sich und wachsen, so lange die Sykosis nicht geheilt ist, wodurch die letztere immer schwieriger und schwieriger zu heilen wird, so wie die innere Gesamte Krankheit mit der Zeit von selbst wächst.“

* Die Fontanellen des Arztes alter Schule tun etwas Ähnliches; sie beschwichtigen als künstliche Geschwüre an den äußern Theilen mehrere innere chronische Leiden, doch nur für eine sehr kurze Zeit, (so lange sie noch einen, dem kranken Organismus ungewohnten, schmerzhaften Reiz verursachen) ohne sie heilen zu können, schwächen aber auf der andern Seite und verderben den ganzen Befindens-Zustand weit mehr, als die instinktartige Lebenskraft durch die meisten ihrer veranstalteten Metastasen tut.

§ 202

„Wird nun von dem Arzte der bisherigen Schule, in der Meinung er heile dadurch die ganze Krankheit, das Lokal-Symptom durch äußere Mittel örtlich vernichtet, so ersetzt es die Natur durch Erweckung des inneren Leidens und der vorher schon neben dem Lokal-Übel bestandenen, bisher noch schlummernden übrigen Symptome, das heißt, durch Erhöhung der inneren Krankheit - in welchem Falle man dann unrichtig zu sagen pflegt, die Lokalsymptomatik sei durch die äußern Mittel zurück in den Körper oder auf die Nerven getrieben worden.“

§ 203

„Jede äußere Behandlung solcher Lokal-Symptomatik, um sie, ohne die innere miasmatische[6] Krankheit geheilt zu haben, von der Oberfläche des Körpers wegzuschaffen, also den Krätz-Ausschlag durch allerlei Salben von der Haut zu vertilgen, den Schanker äußerlich „wegzubeizen“ und die Feigwarze einzig durch Wegschneiden, Abbinden oder glühendes Eisen auf ihrer Stelle zu vernichten. Diese bisher so allgewöhnliche, äußere, verderbliche Behandlung, ist die allerhäufigste Quelle… der unzähligen, benannten und unbenannten, chronischen Leiden geworden, worüber die Menschheit so allgemein seufzt. Sie ist eine der verbrecherischsten Handlungen, deren sich die ärztliche Zunft schuldig machen konnte, und gleichwohl war sie bisher die allgemein eingeführte und wurde von den Kathedern[7] als die alleinige gelehrt*.

*Denn was dabei an Arzneien innerlich gegeben werden sollte, diente bloß zur Verschlimmerung der Symptomatik, da diese Mittel keine spezifische Heilkraft für das Total der Krankheit besaßen, wohl aber den Organismus angriffen, ihn schwächten und ihm andere chronische Arzneikrankheiten als Zugabe beibrachten.

Organon-Analyse: Gestaltwandel & Stellvertretersymptom

Hahnemann entwirft eine Skizze, die folgende Prinzipien definiert:

  • Hierarchisierungsprinzip: bei chronischen Erkrankungen stabilisiert das periphere Symptom das Fließgleichgewicht und verringert die Gefahr eines Progresses innerer Erkrankungen.
  • Holistisches Denken: Die lokale Teilbehandlung peripherer Symptome als getrennte Entitäten fördert in der Regel den Progress einer chronischen Erkrankung als Ganzes, auch wenn es nicht gleich, sondern erst im Zeitverlauf erkennbar wird.
  • Konzept der Suppression: Werden periphere Symptome durch starke therapeutische Maßnahmen lokal gehemmt oder zum Verschwinden gebracht, verschlechtert sich der Zustand im Zeitverlauf als Ganzes, die innere Erkrankung tritt deutlicher mit mehr und anderen Symptomen hervor. Ein unmittelbar erkennbarer kausaler Zusammenhang muss jedoch zeitlich nicht bestehen, da die innere Erkrankung (im Sinne einer systemischen Störung) bereits vorhanden ist, wenn eine Lokalsymptomatik entsteht.
  • Die schädlichen Wirkungen der Therapie (Unerwünschte Arzneimittelwirkungen - UAW) können hinzukommen und die Behandlung verkomplizieren.
  • Gestaltwandel: Die neu auftretenden Symptome zeigen ein verändertes Symptommuster und können vielgestaltig in ihrer Lokalisation und ihrem Ausdruck sein.

Zusammenfassung

Der Gestaltwandel folgt der beständigen Wechselwirkung aller an der Störung oder Krankheit beteiligten Regulationen des Organismus und beschreibt die kontinuierliche Reorganisation des Fließgleichgewichts unter den gegebenen autoregulativen Bedingungen, zu dem jeweils erreichbaren Optimum zum jeweiligen Zeitpunkt, zusammengefasst als Homöodynamik.

Die Entwicklung einer Störung oder Krankheit kann aus dieser Perspektive im Verlauf an den Übergängen zwischen verschiedenen Stadien oder auch Phasen einer Störung bzw. Krankheit zu einem Symptomwechsel oder einer Symptomverschiebung führen. Das Aufspüren dieser Phasenübergänge ist daher diagnostisch besonders relevant.

Eine Besonderheit nimmt hier das Konzept der Vikariation (lat. vicarius Stellvertreter) ein. Es besagt, dass Teilbehandlungen komplexer Störungen oder schlicht die lokale Symptomlinderung einer Krankheit durch eine spezifische Medikation, autoregulativ zur Umwandlung oder Verschiebung des Symptommusters in einen anderen Schwerpunkt, mit Verstärkung vorhandener oder Auftreten neuer Symptome, führt oder führen kann. Diese Veränderungen können mit einer Verschlechterung des Gesamtzustandes einhergehen.

Hahnemann beschreibt diese Beobachtungen als empirische Ableitungen aus der Analyse einer Vielzahl von Kasuistiken im ersten Band der chronischen Krankheiten (Hahnemann, 1979, S. 20 ff.), in dem zahlreiche solche Verläufe illustriert werden.

Analog zu den Erkenntnissen der lokalen Behandlung der Syphilis, als chronische Erkrankung seiner Zeit, und den Erfahrungen aus der homöopathischen Behandlung akuter Epidemien und chronischer Leiden, formuliert Hahnemann die Bedeutung von unzureichenden Teilbehandlungen als in der Regel krankheitsverstärkende Faktoren.

Eine solche Denkweise war für Hahnemanns Zeit und die nachfolgenden Generationen immens revolutionär und stieß daher auf erheblichen Widerstand, welcher von Beginn der Homöopathie Geschichte einen anhaltenden Paradigmenstreit - im Sinne Kuhns - initiierte.

Die Basis für Hahnemanns Postulate bildet das Gestalt-Verständnis des Symptommusters als Merkmal einer komplexen Autoregulation, welches eine monokausale Beziehung zwischen isolierbaren Krankheitsursachen und verschiedenen Symptomengruppen ebenso, wie moralisch-ethische, religiöse oder rein mechanistisch-korpuskuläre Vorstellungen von Krankheitsursachen, aufhebt oder verneint.

Dieser extrem weitsichtige Ausblick war zu Hahnemanns Zeiten sprachlich schwerlich zu formulieren. Die wissenschaftlichen Grundlagen dafür bildeten sich erst seit dem späten 20. Jahrhundert sukzessive bis in die heutige Zeit heraus und es existieren noch zahlreiche offene Fragen. Eine umfassende wissenschaftliche Basis mit passendem Vokabular hierfür findet sich derzeit in den Ansätzen der Systemtheorie. (Bertalanffy, 1969).

Es ist verständlich, weshalb sich im Laufe der zwei Jahrhunderte Medizin- und Homöopathie-Geschichte, bis heute anhaltend, viele alternative theoretische Überbauten aufstöbern lassen, die versuchsweise, von zahlreichen Autoren modellhaft implementiert oder angehängt wurden, um ein theoretisches Modell zur Homöopathie zu erschaffen. Diese können als epochale Erklärungsversuche verstanden und ihrer Zeit zugeordnet werden.

Sowohl aus epistemologischer als auch aus wissenschaftstheoretischer Perspektive erscheint die bis heute anhaltende und aktiv betriebene, paradigmatische Polarisierung und Spaltung zur Homöopathie auf diesem Hintergrund künstlich und überflüssig.


[1] Hierzu gehören umfassende Kenntnisse von Repertorien sowie eine praktische Unterweisung im korrekten Umgang mit der Materia Medica.

[2] Metaschematismus, grch. seit der Antike meint der Begriff Gestaltwandel -umformung jeglicher Art, speziell in der Medizin als innere Veränderung von Krankheiten (Ritter & Gründer, 1980, S. 1299).

[3] Eine eingehende Abhandlung findet sich hierzu auch bei A. Matner, die als philosophische Dissertation allerdings als eine schwer lesbare Kost präsentiert (Matner & Hahnemann, 2022).

[4] Sprachliche Glättung durch den Verf., insbesondere der Begriff „Lokal-Übel“ wurde mit „Lokalsymptomatik und „innere Übel“ durch „innere Erkrankung“ ersetzt.

[5] Der Psora-Begriff ist eine künstliche Begriffsdefinition welche den Prozess vermehrt auftretender systemischer Krankheitssymptome infolge der topischen Behandlung von Hautsymptomen beschreibt, z.B. die Symptom-Verschiebung der Neurodermitis in Richtung Asthma oder auch eine Psoriasis-Arthritis nach intensiver lokaler Behandlung der Hautsymptomatik. Hahnemann bildet dieses Konzept analog anhand der medizinischen Erkenntnisse zur Syphilis seiner Zeitepoche. Der Prozess der Symptomverschiebung wird somit pathologisch als primär infektiöser Prozess verstanden und gleichzeitig aus phänomenologischer Perspektive auf alle Krankheitserscheinungen generalisiert.

[6] Hahnemann meint hier aus pathologischer Sicht chronische Infektionen und aus phänomenologisch-regulativer Sicht alle Krankheitserscheinungen zusammengehörender Symptommuster. Die Unterscheidung war zur damaligen Zeit diagnostisch nicht möglich und wurde daher sprachlich synonym als eins behandelt.

[7] Gemeint sind die Pulte in den Hörsälen der medizinischen Hochschulen


Quellen und Referenzen

  • Bertalanffy, L. von. (1969). General system theory: Foundations, development, applications. Braziller.
  • Hahnemann, S. (1979). Die chronischen Krankheiten, ihre eigenthümliche Natur und homöpathische Heilung. (unveränderter 5. Nachdruck der Ausgabe letzter Hand mit Einführung von Will Klunker, Bd. 1). Haug.
  • Hahnemann, S. (2017). Organon der Heilkunst (6. Aufl.). Hahnemann Institut für homöopathische Dokumentation. https://archive.org/details/organon-der-heilkunst
  • Matner, A., & Hahnemann, S. (with Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)). (2022). Das Denken der Homöopathie: Samuel Hahnemanns Lehre vom lokalen Stellvertretersymptom: ihre Bedeutung für die Klassische Homöopathie und die Anthroposophische Medizin: eine ideengeschichtliche Studie zu den Grundlagen einer hermetisch-hermeneutischen Medizin. KVC Verlag.
  • Ritter, J., & Gründer, K. (Hrsg.). (1980). Historisches Wörterbuch der Philosophie: Bd. 5: L-Mn. Schwabe.

Verf.: glt | Rev.: gbh, mnr, sfm, smi | Lekt.: pz | zuletzt geändert 17.05.2025