Mythos Chinarindenversuch

War die Entdeckung des Ähnlichkeitsprinzips ein Fall von Serendipity, d.h. eine zufällige unbeabsichtigte Leistung?

Die Frage nach dem Anfang ist den Menschen eigen. Oft wird sie mit Geschichten von Initial-Erlebnissen beantwortet. Die sind einprägsam und werden dann für die Wirklichkeit gehalten. Doch Ereignisse und Entwicklungen sind meist viel komplexer als die Geschichten darüber. Das gilt auch für den Chinarinden-Versuch von Samuel Hahnemann.

Das Narrativ

In Bezug auf Samuel Hahnemann und die Homöopathie hat sich folgende Erzählung durchgesetzt:

Als junger Arzt und Familienvater musste sich Hahnemann eine Zeit lang mit Übersetzungen finanziell über Wasser halten. Neben verschiedenen chemischen und pharmakologischen Abhandlungen übertrug er auch William Cullens Arzneimittellehre aus dem Englischen. Kritisch wie er war, versah er seine Übersetzungsarbeiten regelmäßig mit eigenen Anmerkungen und Überlegungen. Sein Zweifel an Cullens Behauptung, die damals bei Wechselfieber gebräuchliche Chinarinde wirke aufgrund ihrer magenstärkenden Wirkung, soll ihn schließlich sogar zu einem Selbstversuch angestachelt haben. Als er daraufhin probehalber mehrere Tage jeweils 2mal etwa 15 Gramm dieser Substanz einnahm, bemerkte er Symptome, die dem Wechselfieber ähnelten. Dieses Erlebnis soll ihn auf die Ähnlichkeitsregel „Similia similibus curentur – Behandle Ähnliches mit Ähnlichem“ gebracht haben.

Wie alle Geschichten enthält auch diese einen wahren Kern. Doch es ist und bleibt eine Geschichte, ein Narrativ, das die Komplexität reduziert, indem es einen langjährigen Erkenntnisprozess auf ein einprägsames Aha-Erlebnis herunterbricht. Rückblickend ist es nämlich kaum möglich, komplexe und vielschichtige Entwicklungen detailgetreu zu rekonstruieren. Außerdem mögen wir Menschen Geschichten, die komplizierte Sachverhalte vereinfacht darstellen. So hat es sich durchgesetzt, Hahnemanns Chinarindenversuch quasi als die Geburtsstunde der Homöopathie darzustellen.

Abbildung 1 - Cinchona Peruviana. Wellcome Images, London (CC BY 4.0)

Versuch der Rekonstruktion eines Erkenntnisprozesses

Da Hahnemann ein umfangreiches schriftliches Erbe hinterlassen hat, kann man anhand seiner frühen Aufzeichnungen versuchen nachzuvollziehen, aus welchen einzelnen Beobachtungen und Überlegungen sich seine Ansichten formten. Dem widmet sich die Autorin Birgit Lochbrunner in ihrer Arbeit: Der Chinarindenversuch – Schlüsselexperiment für die Homöopathie? [1]. Sie untersucht die Frage, welchen Stellenwert das vielzitierte Experiment für Hahnemanns Erkenntnisprozess hatte.

Abbildung 2 - Dosiergefäß für Chininpulver, Italien, 1801-1830. Science Museum. London. Wellcome Library, London (CC BY 4.0)

Zunächst weist sie darauf hin, dass „weder bei Hahnemann noch bei seinen direkten Schülern noch in den nachfolgenden Generationen homöopathischer Ärzte noch bei den Kritikern […] der Chinarindenversuch eine zentrale Bedeutung“ hatte. (Lochbrunner, 2007, S.197)

Da Hahnemann die Grundregeln und Anforderungen der homöopathischen Arzneimittelprüfung erst später entwickelte, kann der Versuch auch nicht als Prototyp einer solchen Prüfung betrachtet werden.

Schließlich zeigt sie an verschiedenen Bemerkungen in Hahnemanns frühen Publikationen, dass der Selbstversuch nicht der zentrale Meilenstein auf dem Entwicklungsweg der Homöopathie war, sondern dass ihm wesentliche Erkenntnisschritte vorausgingen und folgten.

Fakt ist, dass Hahnemann als junger Arzt gute Gründe hatte, die Medizin seiner Zeit zu kritisieren. Insbesondere das Verschreiben von nebenwirkungsreichen Arzneigemischen nach Gutdünken widerstrebte ihm. Aus Unzufriedenheit über die Konzeptlosigkeit und das mangelhafte Wissen über die Arzneien beschäftigte er sich in den Jahren 1780-1792 überwiegend mit medizinischer Literatur und Chemie. Diese umfangreichen Studien bildeten neben seinen ernüchternden Behandlungserfahrungen die Grundlage für sein neues Therapiesystem.

Abbildung 3 - Blaue geriffelte Glasflasche für Arsen, Europa, 1701-1935 . Wellcome Library, London (CC BY 4.0)

1786 veröffentlichte er eine Schrift „Über die Arsenikvergiftung“, in der sich eigene Erfahrungen am Krankenbett sowie auch Einblicke in die Gerichtsmedizin niederschlugen. Bereits hier wies Hahnemann auf eine Symptomenähnlichkeit von Arsenikvergiftung und Wechselfieber hin.

1787 erschien seine Abhandlung „Vorurtheile gegen die Steinkohlefeuerung, die Verbesserungsarten dieses Brennstoffs“. Auch da machte er eine Andeutung im Sinne des Ähnlichkeitsprinzips. (vgl. Lochbrunner, 2007, S.30)

1789 kritisierte er in seinem Lehrbuch Unterricht für Wundärzte über die venerischen Krankheiten die damals gängige Behandlung der Syphilis mit massiven Quecksilbergaben und versuchte sich an einer neuen milderen und wirksameren Rezeptur. Die humoralpathologischen und iatrochemischen Wirkungsvorstellungen lehnte er ab und erklärte seinerseits die Heilkraft des Quecksilbers durch eine Gegenwirkung des Körpers (das sogenannte Merkurialfieber). Außerdem verwies er auf Schädlichkeit großer und ansteigender Dosen.[1] Interessanterweise bezeichnete er auch die Syphilis als ein „kleines Fieber“, das mit dem künstlich durch Quecksilbergaben erzeugten „Merkurialfieber“ behoben werden kann.

Abbildung 4 – Donald Monro's Arzneimittellehre (https://archive.org/details/BIUSante_38020x02)

1791 erschien Hahnemanns Übersetzung von Donald Monros Chemisch pharmaceutische Arzneimittellehre [3].

In gewohnter Manier spickte er auch diese Arbeit mit seinen Anmerkungen. In einer Fußnote (FN) zu Mercurius solubilis erwähnte er das Merkurialfieber noch einmal. Hier findet man zum ersten Mal den Begriff Ähnlichkeit. Denn seiner Ansicht nach kommt es durch Quecksilbereinnahme zu Verschlimmerungen der venerischen Beschwerden, „weil die Übel von Quecksilber einige Aehnlichkeit mit den venerischen haben.“ (Hahnemann, 1791, S.181 (FN)) Auch seine Überlegungen zur Wirkung der Chinarinde führte er in diesem Werk weiter (Hahnemann, 1791, S. 389 (FN)).

Außerdem erfahren wir hier von seiner eigenen Wechselfiebererkrankung, die er mit der üblichen Chinatinktur behandelte:

"Ich nahm dergleichen in Erlangen[2] gegen ein Rezidiv von Quartanfieber ein und ward durch 6 Quentchen mein Fieber los" (Hahnemann, 1791, S. 396 (FN)).

1792 finden wir in der Publikation Freund der Gesundheit noch eine sehr interessante Bemerkung. Da empfiehlt Hahnemann in einem Aufsatz verschiedene Vorsichtsmaßnahmen, die Ärzte oder Krankenpfleger bei epidemischen Krankheiten einhalten sollten, um sich nicht bei ihren Patienten anzustecken [4]. Dort rät er unter anderem:

„Sollte man einige annähernde Zeichen der Krankheit an sich spüren, so enthalte man sich sogleich des Kranken, und hat man nichts widriges in seiner Lebensordnung begangen, so empfehle ich, so sehr ich auch in diesen Blättern alle Arzneivorschriften zu vermeiden suche, ein Hausmittel, wenn man will, empirisch.

Ich habe in solchen Fällen ein Quentchen Chinarinde mit Wein alle Dreyviertelstunden genommen, bis alle Gefahr der Ansteckung[3] (die Krankheit mochte auch irgend ein unterm Volke herrschendes Fieber seyn) völlig wieder verschwunden war.“ (Hahnemann, 1792, S.36)

Das zeigt, dass Hahnemann Chinarinde auch unabhängig von Malaria bereits als Heil- und Präventivmittel bei sich andeutenden Fiebersymptomen einsetzte.

Das Ähnlichkeitsprinzip wurde von Hahnemann nicht entdeckt, sondern endlich systematisch genutzt

In seinen späteren Schriften wurde Hahnemann nicht müde zu betonen, dass in der Vergangenheit einige Ärzte aufgrund ihrer Beobachtungen bereits zu dem Schluss gekommen waren,

„dass jene [...] Fähigkeit der Arzeneien, [...] der Krankheit analoge (positive) Symptomen zu erregen -, es sey, wodurch sie ächte Heilung bewirken.“ (Hahnemann, 1805, S.56)

Als Beispiel zitiert er Hippokrates und fährt dann in der Fußnote fort:

„So haben auch nachgängige Aerzte hie und da eingesehen, dass die Bauchweh erregende Eigenschaft der Rhabarber die Ursache ihrer Kolik stillenden, und die Erbrechen erregende Kraft der Ipecacuanha der Grund ihrer Brechen stillenden Tugend in kleinen Gaben sey“ (Hahnemann, 1805, S.64 (FN)).

In der medizinischen Literatur findet er eine Fülle analoger Beispiele. Er präsentiert sie in seinem Aufsatz Fingerzeige auf den homöopathischen Gebrauch der Arzneien in der bisherigen Praxis, der 1807 in Hufeland's Journal der practischen Arzneykunde erschien [6].

Abbildung 5 - Fotografie Cinchona officinalis, Rubiaceae, Gelber Chinarindenbaum, Rinde. H. Zell 2009

Es war die unverrückbare Lehrmeinung der Medizin, dass „Krankheiten blos durch gegentheilige Mittel (durch Palliative)“ zu behandeln sind, die eine genaue empirische Analyse aller Beobachtungen blockierte. Das dogmatische Festhalten am Contraria-Prinzip verhinderte somit, dass auch andere Auswahlprinzipien für Arzneien überhaupt in Betracht gezogen, geprüft und genutzt wurden. So resümierte Hahnemann:

„Und wenn es auch hie und da ein Weiser wagte, mit einigen leisen Worten zu widersprechen und ein: “Similia similibus“ vorzuschlagen, so ward dieser Einspruch doch nie geachtet und das Grunddogma aller medizinischen Schulen […] blieb […] in ungestörter, bemooster Verjährung, […] ununterbrochen fortgepflanzt bis auf den heutigen Tag.“ (Hahnemann, 1807, S.6)

Hahnemann gebührt das Verdienst, sich über die verstaubten Dogmen hinwegsetzend und ohne Rücksicht auf seine Reputation das Ähnlichkeits-Prinzip endlich systematisch und praktisch nutzbar gemacht zu haben. Die selbst durchgemachte Wechselfieber-Erkrankung, seine Heilung mit Chinatinktur, danach der Chinarinden-Versuch und seine wiederholte Einnahme des Mittels bei Fieberanzeichen zeugen von einem vielschichtigen Prozess reifender Erkenntnis. Seine praktischen Erfahrungen bestätigten, was ihm aus Literaturstudium und empirischer Beobachtung schlüssig erschien.[4]

Im Jahr 1796 ging Hahnemann in seinem Aufsatz Versuch über ein neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen [8] erstmals mit der Ähnlichkeitsregel an die Öffentlichkeit. Die seitdem ungezählten Therapie-Erfahrungen mit der Homöopathie lassen sich nicht als Placeboeffekte wegdiskutieren (Mehr zum Placeboeffekt. Mehr Infos zur klinischen Forschung in der Homöopathie ). Doch nach 225 Jahren Homöopathie ist es an der Zeit, die tradierten Mythen und Erklärungsansätze zu hinterfragen, die Begriffe und Modelle zu präzisieren und die homöopathisch-therapeutischen Prinzipien auf der Basis zeitgemäßer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu beschreiben.


[1] Denn die Erfahrung zeige, „[...] dass die kleinste Menge Queksilber, wenn sie nur ein gehörig starkes Merkurialfieber erregt, den höchsten Grad der eingewurzelsten Lustseuche heben kann.“ (Hahnemann, 1789, S.188f.)

[2] Hahnemann war vom 1775-1777 zum Medizinstudium in Leipzig und Wien; von 1777-1778 als Bibliothekar und Leibarzt bei Freiherrn von Brukenthal in Hermannstadt (Siebenbürgen), wo sich Hahnemann eine Infektion mit der dort endemischen Malaria zugezogen haben muss; von 1778-1779 Promotion in Erlangen.

[3] Obwohl Mikroben als Krankheitserreger zu Hahnemanns Zeit noch nicht nachgewiesen und sichtbar gemacht werden konnten, verwendete man den Begriff der „Ansteckung“ in der Medizin schon seit langem. Er basiert auf der Beobachtung, dass jemand nach Kontakt mit einem Kranken die gleichen Krankheitszeichen entwickelte. Bereits der italienische Arzt Girolamo Frascatoro (1478-1553) hatte als Erklärungsmodell für die Entstehung und Ausbreitung epidemischer Krankheiten eine Kontagienlehre entwickelt, die aber wieder in Vergessenheit geraten war. Auch Luther (1483-1546) benutzte den Begriff: "... insbesondere das gift einer ansteckenden krankheit, die ansteckung und die pest selbst: der feind hat uns durch gottes verhengnis gifft und tödliche geschmeis herein geschickt. Luther 3, 396b". Spätestens im 18 Jh. war der Ansteckungsbegriff dann im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Pockenkrankheit und der venerischen Krankheiten allgemein gebräuchlich.

[4] „Denn wie wäre es sonst möglich, daß das heftige dreitägige und jenes tägliche Fieber, was ich vor vier und sechs Wochen, ohne zu wissen, wie es zuging, mit ein Paar Tropfen Chinatinktur ohne Nachwehen heilte, fast gerade die Reihe von Zufällen hatte, die ich gestern und heute an mir selbst wahrnehme, da ich, gesunderweise, vier Quentchen gute Chinarinde, Versuchshalber, allmählig eingenommen habe!“ (Hahnemann, 1808, S. 494)


Literatur

[1] Lochbrunner, Birgit (2007): Der Chinarindenversuch – Schlüsselexperiment für die Homöopathie?, Essen: KVC Verlag.

[2] Hahnemann, Samuel (1789): Unterricht für Wundärzte über die venerischen Krankheiten, nebst einem neuen Queksilberpräparate. Leipzig: Siegfried-Lebrecht Crusius.

[3] Hahnemann, Samuel (1791): Donald Monro's, Doktors der Arzneikunde, Chemisch pharmaceutische Arzneimittellehre welche die Londner Pharmacopöe praktisch erläutert - übersetzt und mit Anmerkungen von Samuel Hahnemann. Leipzig: Georg Emanuel Beer.

[4] Hahnemann, Samuel (1792): Verwahrung vor Ansteckung in epidemischen Krankheiten; Freund der Gesundheit, Bd.1, Heft 1. Frankfurt am Main: Wilhelm Fleischer.

[5] Hahnemann, Samuel (1805): Heilkunde der Erfahrung; Hufeland's Journal der practischen Heilkunde, Band 22, 3. Stück, S.5-100. Berlin: Wittich.

[6] Hahnemann, Samuel (1807): Fingerzeige auf den homöopathischen Gebrauch der Arzneien in der bisherigen Praxis; Hufeland's Journal der practischen Arzneykunde, 26. Band, 2. Stück, S. 5-43. Berlin: Wittich.

[7] Hahnemann, Samuel (2001): Gesammelte kleine Schriften; Auszug eines Briefs an einen Arzt von hohem Range, über die höchst nöthige Wiedergeburt der Heilkunde (geschrieben 1808, veröfffentlicht im Allg. Anzeiger der Deutschen, 343, S.3729-3741). Hrsg. v. Josef M. Schmidt u. Daniel Kaiser. Haug. Verfügbar unter https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00263172/Reichsanzeiger_167367196_1808_02_0001.tif (8.6.2023)

[8] Hahnemann, Samuel (1796): Versuch über ein neues Prinzip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen; Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunst: hrsg. von C. W. Hufeland, 1796, 2. Band, 3. Stück S. 391-439 und 4. Stück S. 465-561. Jena: in der academischen Buchhandlung.


Verf.: smi | Rev.: mnr | Lekt.: pz | zuletzt geändert 29.06.2023