Zum Ursprung der Heringschen Regel

Abstract

Eine zentrale Frage bei der Anwendung der Homöopathie als praktische Medizin ist, wie man verlässliche Prognosen über den Heilungsverlauf – insbesondere bei chronischen Erkrankungen – stellen kann. Praktische Leitlinien wären für Anfänger von großem Nutzen, doch ihre Entwicklung erfordert eine umfassende Sammlung und unabhängige Analyse von Beobachtungen – so wie es Samuel Hahnemann zu seiner Zeit bereits angestoßen und Constantin Hering später fortgeführt hat.

Chronische Erkrankungen sind dynamisch verlaufende Prozesse, die sich durch natürliche Progression, therapeutische Eingriffe, aber auch durch weitere Kontextfaktoren verändern. Dabei ist die Abfolge des Auftretens und Verschwindens von Symptomen für Therapie und Prognose von entscheidender Bedeutung – eine zentrale Erkenntnis in der Homöopathie.

Aus diesen Beobachtungen naturwissenschaftliche Theorien oder sogar Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, setzt präzise, wiederholte und vielfältige empirische Beobachtungen voraus, die regelmäßig bestätigt werden. Die dafür erforderliche Datenlage war für solche Schlüsse weder zur Zeit von Constantin Hering noch von James Tyler Kent ausreichend. Offene Fragen betreffen die Relevanz spezifischer Parameter bei der Beurteilung von Krankheitsverläufen, mögliche Muster in der Symptomabfolge und die Entwicklung zeitgemäßer wissenschaftlicher Erklärungsmodelle.

Aus diesen Beobachtungen naturwissenschaftliche Theorien oder sogar Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, was man etwa James Tyler Kent vorwerfen könnte. Offene Fragen betreffen die Relevanz spezifischer Parameter bei der Beurteilung von Krankheitsverläufen, mögliche Muster in der Symptomabfolge und die Entwicklung zeitgemäßer wissenschaftlicher Erklärungsmodelle.

Einleitung

Der Begriff „Heringsche Regel“ fehlt heute in keinem Homöopathielehrbuch. Jeder Student der Homöopathie lernt in seiner Ausbildung diese Regel als ein wichtiges prognostisches Kriterium kennen, mit dem er den kurativen Verlauf von chronischen Erkrankungen beurteilen kann oder können sollte. Manche Autoren sprechen sogar von einem „Heringschen (Heil)Gesetz“.

So äußerte Kent, die Heilung müsse vom Zentrum zur Peripherie fortschreiten, von oben nach unten, von innen nach außen und von wichtigeren zu weniger wichtigen Organen. Außerdem müssten bei einer kurativen Reaktion die Symptome in der umgekehrten Reihenfolge ihres Auftretens verschwinden. (Kent, 1911)

Die Suche nach Gesetzmäßigkeiten und die Postulierung von Regeln entspringt unserem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild und dem nachvollziehbaren Wunsch nach handhabbaren Leitlinien für die Praxis.

Regeln, Gesetze und zur Empirie als Methodik

Empirie als zentrale Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis beruht darauf, durch präzise und wiederholte Beobachtungen Erkenntnisse zu gewinnen, welche induktiv zur Formulierung wissenschaftlicher Theorien führen, im Sinne einer Erfahrungswissenschaft. Diese Theorien werden zyklisch und fortwährend durch weitere Beobachtungen überprüft. (Link Einfügen zu empirie)

Eine Regel bezieht sich im Allgemeinen auf eine Beziehung oder ein Prinzip, welches beobachtbare Phänomene beschreibt oder erklärt. Eine Regel basiert also auf empirischen Beobachtungen und beschreibt bestimmte Muster oder Zusammenhänge (Regelmäßigkeiten).

Ein (naturwissenschaftliches) Gesetz ist präziser als eine Regel und gründet sich sowohl auf umfangreichen phänomenologischen Grundlagen als auch auf praktischer Evidenz. In einem Gesetz werden Variablen und Eigenschaften definiert und es lassen sich oft allgemeingültige Aussagen ableiten. Hieraus lassen sich präzisere Vorhersagen treffen als durch eine Regel.

Wird eine Regel in der Praxis nicht durch ausreichende und vielfältige Beobachtungen überprüft und entweder bestätigt oder widerlegt, bleibt sie eine Arbeitshypothese. Damit kann man zwar operieren, aber die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollten stets als vorläufig betrachtet und kontinuierlich kritisch hinterfragt werden, um eine fundierte und verlässliche wissenschaftliche Basis zu gewährleisten.

Prognose des Krankheits- und Heilungsverlaufs

Bei der Behandlung von Patienten geht es darum, zuverlässige Prognosen zum Krankheits- und Heilungsverlauf stellen zu können. Für das Fallmanagement ist es essenziell, die homöopathische Behandlung anhand dafür geeigneter Parameter korrekt zu bewerten.

Vage formulierte Regeln, die mit „von oben nach unten“, „von innen nach außen“ oder von „wichtigen zu weniger wichtigen Organen“ operieren, öffnen allerdings einen großen Deutungsspielraum.

Beobachtungen aus der Praxis zeigen, dass sich diese Regel bei der Behandlung und Analyse von Fallverläufen nicht durchgängig oder nur teilweise bestätigt, was zu berechtigten Zweifeln und weiterführenden Fragestellungen führt:

  • Stammt diese Regel überhaupt von Constantin Hering und wenn ja, in welchem Kontext wurde sie überhaupt beschrieben und eingeführt?
  • Ist diese Regel ein geeignetes Instrument zur Beurteilung von Krankheits- und Heilungsverläufen?

Weiterführende Literatur

André Saine ging diesen Fragen genauer nach. 1988 veröffentlichte er seine quellenkritische Analyse „Hering's Law: Law, Rule or Dogma?“, die leider nur von wenigen Kollegen wahrgenommen wurde und auch die Lehre kaum beeinflusste (Saine, 1988).

A. Saines Originalartikel wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors von Roland Methner und Ute Steffenhagen ins Deutsche übersetzt. Seine Recherchearbeit, die sich in jedem Fall vollständig zu lesen lohnt, wird hier erweitert, ergänzt.

Original Artikel Herunterladen (EN) Deutsche Übersetzung

1998 lieferte Christian Lucae einen weiteren umfassenden Beitrag zur Entstehung des „Heringschen Gesetzes“ (Lucae, 1998).

Die ausführlichste Quellenzusammenstellung zur Heringschen Regel findet sich aktuell in der neusten Auflage des Lexikons der Homöopathie: Das Basiswissen der Homöopathie in Original-Zitaten von Dr. med. Hedwig Pötters (Pötters, 2022, S. 456-470).

Hier folgen die wesentlichsten Quellen, d. h. chronologisch in der Literatur nachweisbare Überlegungen und Aussagen von Hahnemann, Hering und Kent, die zur Formulierung der „Regeln“ führten.

Die Heringschen Regel in verschiedenen Publikationen

1 Samuel Hahnemann

Samuel Hahnemann beschrieb 1828 im ersten Band seines Werkes Die chronischen Krankheiten, ihre eigenthümliche Natur und homöopathische Heilung seine empirischen Beobachtungen und formulierte daraus Regeln hinsichtlich des Fortschreitens und der Heilung chronischer Krankheiten (Hahnemann, 1835).

Portrait von Samuel Hahnemann - Bildausschnitt aus einem Bleiglasfenster
Abb.1. - Samuel Hahnemann. Bildausschnitt aus einem Bleiglasfenster (Foto: Museum Schloss Köthen) bearbeitet von Welterberegion Anhalt-Dessau-Wittenberg e.V.)

Ausgehend von seiner Theorie, dass eine infektiöse Hauterkrankung („Psora) den meisten chronischen Leiden vorausging, entwickelte er seine Vorstellungen über den Heilungsverlauf. Hier finden sich bereits die grundlegenden Äußerungen, die Hering in seinen Regeln später aufgreift:

  • Ein oberflächlicher Hautausschlag ist die erste Manifestation einer chronischen (psorischen) Krankheit. Durch natürliche Progression oder eine nur die oberflächlichen Symptome vertreibende Behandlung können sich Symptome der chronischen Erkrankung verschlimmern. Diese würden dann bei einer kurativen Reaktion in der umgekehrten Reihenfolge ihres Auftretens verschwinden.

„Die neuerlichst hinzugekommenen Symptome einer sich selbst überlassen gebliebenen (nicht durch ärztliche Pfuscherei verhudelten) chronischen Krankheit weichen in der antipsorischen Kur am ersten, die ältesten und immer am beständigsten und unverändertsten gebliebenen Uebel aber, worunter die ständigen Lokal - Uebel gehören, am spätesten und nur, nachdem alle übrigen Beschwerden schon verschwunden und die Gesundheit in jeder andern Rücksicht fast völlig wiedergekehrt ist.“ (Hahnemann, 1835, S. 168)

  • Wenn während der Behandlung alte Symptome wieder erscheinen, sei das ein Zeichen für einen kurativen Effekt. So wäre zum Beispiel das Wiedererscheinen eines Hautausschlags ein Zeichen für die Heilung der Erkrankung.
  • Hahnemann schilderte auch Beobachtungen mit aus heutiger Sicht psychosomatischen Erkrankungen, die „von innen nach außen“ fortschreiten. Eine unmittelbare Reaktion psychischer Symptome auf die Behandlung sei hier ein zuverlässiges Zeichen (keine Verlaufsregel) für eine kurative Reaktion.

Die Verlagerung von Symptomen, die Hahnemann beim Fortschreiten einer chronischen Erkrankung beobachtete, griff er u. a. in den Organon-Paragraphen 215 und 216 („einseitige Krankheiten“) auf und erklärte:

„Die Fälle sind nicht selten, wo eine den Tod drohende, sogenannte Körper-Krankheit - eine Lungenvereiterung, oder die Verderbniß irgend eines anderen, edeln Eingeweides, oder eine andere hitzige (acute) Krankheit, z.B. im Kindbette u.s.w., durch ein schnelles Steigen des bisherigen Gemüths-Symptoms, in einen Wahnsinn, eine Art Melancholie, oder eine Raserei ausartet und dadurch alle Todesgefahr der Körper-Symptome verschwinden macht; leztere bessern sich indeß fast bis zur Gesundheit, oder verringern sich vielmehr bis zu dem Grade, daß ihre dunkel-fort währende Gegenwart nur von dem beharrlich und fein beobachtenden Arzte noch erkannt werden kann. Sie arten auf diese Weise zur einseitigen Krankheit, gleichsam zu einer Local-Krankheit aus, in welcher das vordem nur gelinde Symptom der Gemüths-Verstimmung zum Haupt-Symptome sich vergrößert, welches dann größtentheils die übrigen (Körper-) Symptome vertritt, und ihre Heftigkeit palliativ beschwichtiget, so daß, mit einem Worte, die Uebel der grobem Körper-Organe auf die fast geistigen, von keinem Zergliederungs-Messer je erreichten oder erreichbaren Geistes- und Gemüths-Organe gleichsam übergetragen und auf sie abgeleitet werden.“ (Hahnemann, 1921)

2 Constantin Hering

Als Hering 1845 das Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Die chronischen Krankheiten verfasste, konnte er auf bereits über 20 Jahre praktische Erfahrungen in der Anwendung homöopathischer Arzneimittel und der Durchführung homöopathischer Arzneimittelversuche zurückblicken. Hahnemanns originäre Beobachtungen formulierte er hier als das „Gesetz der Reihenfolge“:

„Jeder homöopathische Arzt muß beobachtet haben, daß die Besserung von Schmerzen von oben nach unten stattfindet; und bei Krankheiten, von innen nach außen. Das ist der Grund dafür, daß chronische Krankheiten, wenn sie gründlich geheilt worden sind, immer mit einem Hautausschlag enden, welcher sich entsprechend der Konstitution der Patienten unterscheidet. Die gründlichste Heilung einer weit verzweigten chronischen Krankheit im Organismus wird dadurch angezeigt, daß die wichtigsten Organe zuerst entlastet werden; das Leiden verschwindet in der Reihenfolge, in der die Organe befallen wurden, indem das wichtigste zuerst, das weniger wichtige als nächstes, und die Haut zuletzt entlastet wird.“ (Hering, 1845, S. 7; deutsche Übersetzung zitiert nach Lucae, 1998, S. 59)

Portrait Constantin Hering
Abb. 2 - Constantin Hering (1800 – 1880). Quelle: Collection Sylvain Cazalet (Constantine Hering Memorial 1880 edited by Charles G. Raue, Calvin B. Knerr, and Charles Mohr, printed in Philadelphia by Globe Printing House)

Wie spätere Publikationen zeigen, sah sich Hering nicht gezwungen, seine Ansichten aufgrund anderer Beobachtungen zu revidieren. So erklärte er 1864 in der Homöopathischen Vierteljahresschrift in einer Auseinandersetzung mit Dr. David Roths Kritik an Hahnemann:

„[…] Dieselbe eigenthümliche Fähigkeit zeigte ihm [Hahnemann; Anm. d. Verf..] den Unterschied zwischen Geheiltbleibenden und nicht Geheiltbleibenden. Dadurch allein wurde es möglich, dass er die grossartige, in den Lehrbüchern der Homöopathie unbeachtet gebliebene Entdeckung machte, dass die Zeichen in der umgekehrten Ordnung ihrer Entstehung müssen gehoben werden, dass die zuletzt entstandenen Zeichen immer bei der Wahl die wichtigsten sind, dass also, was die treuen Anhänger daraus als nothwendig folgern mussten und gefolgert haben, nämlich: dass wenn die Zeichen in der umgekehrten Ordnung ihres Entstehens aufhören, der Kranke auch geheilt bleibt, bei jeder andern Ordnung aber nicht.

Dieselbe Fähigkeit, Beobachtungen von solcher Tragweite zu machen, liess ihn erkennen, dass die chronischen Kranken, bei denen ein Ausschlag entstand, nicht nur dabei, sondern auch nach dessen Aufhören, mehr und anhaltender gebessert wurden, als wenn innere Zeichen aufhörten ohne das Erscheinen der äusseren. Aehnlich ist es mit dem Aufhören der Zeichen erst oben, dann weiter unten; was uns immer eine bessere Prognose, oft die der bleibenden Heilung erlaubt. Ja, es stimmt ganz mit Vorigem, weil das Oberste dem Innersten entspricht, das Unterste dem Aeussersten.“ (Hering, 1864, S. 1311)

Es ist fraglich, wie viele deutsche Kollegen diese mit „Schachzüge“ betitelten Argumentationen überhaupt lasen. Zur viel größeren Bekanntheit (um nicht zu sagen zu Popularität) der Heringschen Regel trug wahrscheinlich eher das Kapitel „Anweisung, wie man dem Arzte Bericht erstatte“ in Constantin Hering’s Homöopathischem Hausarzt bei. Ab der 12. Auflage von 1864 hatte Hering diesen Abschnitt ergänzt und erklärte hier:

„Vor allem aber ist es wichtig, einen genauen Bericht zu geben, in welcher Folge sich die verschiedenen Beschwerden eingestellt haben. Ebenso wie es keinem Kranken zusteht, bestimmen zu wollen darüber, was er durch den Arzt geheilt haben will und was nicht, sondern es nothwendig ist, daß der Arzt alles kenne, weil alle Heilung darauf zielen muß, den ganzen Menschen zu heilen, dies aber immer nur von Innen nach Außen, oder von Oben nach Unten geschehen kann, ebenso muß der Arzt auch genau die Ordnung erfahren, in welcher alles entstand. Das ist auch eines jener großen Gesetze, welche Hahnemann entdeckte, daß bei jedem Kranken die verschiedenen Beschwerden, die sich nach und nach einstellten, immer in der umgekehrten Ordnung ihres Entstehens entfernt werden müssen, also die letzten zuerst, und die ältesten zuletzt, und es läßt sich das nicht ändern; wenn der Kranke und sein Arzt sich nicht genau darnach richten, so wird nichts aus der Heilung, und der Kranke wird entweder gar nicht gesund, oder bleibt's nicht lange.“ (Hering, 1864, S. 16]

Richard Haehl, der mit der 19. Auflage ab 1905 für die weitere Herausgabe des Homöopathischen Hausarztes verantwortlich zeichnete, hatte in seinen folgenden und (teilweise deutlich) veränderten Versionen diesen Passus jedoch wieder entfernt. Doch bis dahin waren immerhin 7 Auflagen des erfolgreichen Homöopathie-Ratgebers verkauft. In den seinerzeit kursierenden englisch- und französischsprachigen Publikationen, die auf Herings Hausarzt beruhen, findet sich dieser wichtige Absatz nicht.

Der 1997 im Verlag v. d. Lieth erschienene unveränderte Nachdruck basiert glücklicherweise auf der noch von Hering autorisierten 14. Auflage von 1875.

1865 geht Hering dann in dem Aufsatz Hahnemann's three rules concerning the rank of symptoms nochmals ausführlich und erklärend auf die Thematik ein:

„[…] die Quintessenz seiner Lehre ist, bei allen chronischen Krankheiten, d. h. bei solchen, die von außen nach innen, von der Peripherie zu den zentralen Organen, allgemein von unten nach oben fortschreiten, - in allen solchen Fällen mit Vorliebe solche Arzneimittel zu verabreichen, die umgekehrt in ihrer Richtung oder ihrem Wirkungsweg sind, solche, die von innen nach außen, von oben nach unten, von den wichtigsten Organe zu den weniger wichtigen, vom Gehirn und den Nerven nach außen und nach unten zum äußersten und niedersten aller Organe, zur Haut hin, wirken […] Hahnemanns Lehre zur Behandlung chronischer Krankheiten umfaßt weitere und entgegengesetzte, nämlich: die entgegengesetzte Richtung der Entwicklung jedes einzelnen Falles einer chronischen Krankheit. All die antipsorischen Mittel Hahnemanns haben diese Besonderheit als wichtigstes Charakteristikum; die Entwicklung der Wirkungen von innen nach außen.“ (Hering, 1865; deutsche Übersetzung zitiert nach Lucae, 1998, S. 59)

Hier empfiehlt Hering bei der Mittelwahl außerdem „mit Vorliebe solche Arzneimittel zu verabreichen, die umgekehrt in ihrer Richtung oder ihrem Wirkungsweg sind“. Offenbar ging es ihm mehr um die Vermittlung praktisch umsetzbarer Regeln als um die Postulierung von Gesetzmäßigkeiten.

1875 übernahm Hering in seinem Werk Analytical Therapeutics of the Mind die Ordnung der Symptome von Hahnemann. Er bekräftigte hier noch einmal seine Beobachtungen, dass bei einem kurativen Verlauf die Symptome in der umgekehrten Reihenfolge ihres Auftretens verschwinden. (Hering, 1875)

Die wiederholte Publikation des Aufsatzes Hahnemann's three rules concerning the rank of symptoms beispielsweise in The Medical Advance (1892), in Transactions of the Worlds̓ Congress of Homœopathic Physicians and Surgeons (1893) sowie in The British Homoeopathic Review (1909) zeigt, dass das Thema damals bei den homöopathischen Ärzten auf Interesse stieß und auch diskutiert wurde. (Hering, 1865)

3 James Tyler Kent

Durch James Tyler Kent (1849 - 1916) ging der Begriff der „Heringschen Regel“ bzw. „Hering’s law“ in die Literatur und den Sprachgebrauch ein.

Porträt J. T. Kent, vor 1916
Abb. 3 - Portrait J. T. Kent, vor 1916. Quelle: http://homeoint.org/biograph/kentde.htm.

1911 behauptete Kent in seinem Aufsatz Correspondence of Organs, and Direction of Cure:

„Hering führte als erster das Gesetz der Richtung der Symptome ein: von innen nach außen, von oben nach unten, in umgekehrter Reihenfolge ihres Auftretens. Es kommt in den Schriften Hahnemanns nicht vor. Es wird als Heringsches Gesetz bezeichnet. In der homöopathischen Literatur findet sich kaum etwas über dieses Gesetz, außer der Beobachtung, dass die Symptome von oben nach unten in die Extremitäten wandern, dass Hautausschläge und Absonderungen von Schleimhäuten auftreten oder dass Geschwüre am Bein entstehen, wenn die inneren Symptome verschwinden.“ (Kent, 1911, S. 31)

Wie in Abschnitt 1 dieses Kapitels dargestellt, war bei Hahnemann bereits das erkennbar, was Hering dann in prägnanterer Form als Regeln formulierte. Insofern irrte Kent hier.

Die meistzitierte Quelle für Kents Ansicht über „Hering’s law“ sind seine Vorlesungen über homöopathische Philosophie, die er 1900 an der Postgraduate Schule für Homöopathie hielt und die auch als Buch veröffentlicht wurden und mehrere Auflagen erlebten (Kent, 1919). In der deutschen Ausgabe Zur Theorie der Homöopathie (Haug Verlag, 2004) lesen wir im Kapitel 2, Das höchste Ideal der Heilung folgendes:

„Es ist vor allem das Wollen, das den Menschen ausmacht […]; in zweiter Linie kommt das Verstehen, die Vernunft; und endlich an letzter Stelle seine äußere Hülle, sein Körper. Wir schreiten also vom Zentrum peripheriewärts vor und von seinen Organen bis in die äußersten Teile seines Körpers, wie Haut, Nägel usw. Ist dies so, so muß auch die Heilung vom Zentrum ausgehen und in die Peripherie hinausdringen. Vom Zentrum zur Peripherie bedeutet: von oben nach unten, von innennach außen, von den lebenswichtigen Organen zu den weniger lebenswichtigen, vom Kopf zu den Extremitäten. Jeder homöopathische Arzt, der die Kunst zu heilen versteht, weiß, daß Symptome, die auf diese Weise verschwinden, nie mehr zurückkommen werden. Und noch viel mehr, er weiß, daß Symptome, die in umgekehrter Reihenfolge ihres Auftretens verschwinden, auch für immer wegbleiben werden.“ (Kent, 2004, S. 20f.)

Inhaltlich hat Kent die Regeln nach seinen weltanschaulichen Ansichten (z. B. den religiösen Lehren von Swedenborg) und dem damaligen Zeitgeist (ab den 1910er-Jahren boomte in den USA die Psychoanalyse) modifiziert. Er identifizierte das „Innen“ mit dem seelischen Innenleben des Menschen. Als Lehrer und Autor prägte er damit viele nachfolgende Homöopathen-Generationen.

„Kents […] Psychosomatisierung dieser Regel, die eigentlich als rein phänomenologische Beschreibung des hierarchischen Heilungsverlaufes gedacht war, steht im eklatanten Gegensatz zu Hahnemanns somatopsychotischen Vikariationsbegriff, wie er ihn im Organon geprägt hat.“ (Matner, 2002, S. 186)

Der Wunsch nach praktischen Leitlinien und allgemeingültigen Regeln ist insbesondere für Anfänger mehr als verständlich. Zur Ableitung solcher Regeln braucht es eine umfangreiche Sammlung von Beobachtungen und Erfahrungen sowie eine kritische und von gängigen Zeitgeist-Theorien unabhängige Auswertung. Daraus aber Gesetze im naturwissenschaftlichen Sinne ableiten zu wollen, ist freilich nicht möglich. (Siehe dazu „Naturgesetz“, 2025)

Diskussion - unberücksichtigte Aspekte

Die Diskussion um die sogenannte Heringsche Regel hat noch eine andere Dimension, auf die A. Matner in seiner Arbeit Das Denken der Homöopathie hinweist: den Gestaltwandel von Krankheiten (Pathomorphose) sowie den Vikariationsgedanken - die Stellvertreterfunktion von Symptomen für andere (Matner, 2002, S. 182 ff.).

Chronische Erkrankungen müssen als dynamische Prozesse verstanden werden, die sich im Laufe der Zeit und unter dem Einfluss verschiedener Faktoren verändern können. Krankheitsbilder entwickeln sich sowohl durch natürliche Progression als auch durch therapeutische Interventionen und durch weitere Kontextfaktoren. Die Ansicht, dass die erste Manifestation, der Hautausschlag oder andere periphere Lokalsymptome den Organismus von schwerwiegenderen Störungen „entlasten“, bei Fortschreiten aber verschwinden, ist ein Kerngedanke von Hahnemanns Psora- bzw. Miasmentheorie. (mehr dazu siehe hier)

Die kurative homöopathische Behandlung zielt auf die Rückbildung der pathologischen Veränderungen. Deshalb ist die Reihenfolge des Auftretens von Symptomen für die Therapie und Prognose chronischer Erkrankungen bedeutsam.

Die Beobachtung und Dokumentation des zeitlichen Verlaufs von Symptomen ist Grundlage für das Verständnis und die Behandlung chronischer Erkrankungen.

Ausblick

Die Kernfrage, die sich sowohl Hahnemann als auch Hering und letztlich alle Homöopathen stellen, ist diese:

Wie lassen sich zuverlässige Vorhersagen für den Heilungsverlauf treffen?

Im Sinne des Auffindens von Gesetzmäßigkeiten und Regeln ergeben sich weitere Fragen, z. B.

  • Welche Parameter sind im jeweiligen Erkrankungsverlauf relevant und wichtig zu beobachten?
  • Welche Parameter sagen etwas über den Heilungsverlauf aus und unter welchen Bedingungen?
  • Wenn Symptome als Parameter dienen, welche Zusammenhänge zeigen sich dann zwischen dem Auftreten und dem Verschwinden von einzelnen Symptomen?
  • Können wir anhand von vielen individuell beobachteten und gut dokumentierten Fällen diese Zusammenhänge bestätigen?
  • Gibt es schlüssige wissenschaftliche Modelle, die als Erklärungsmodell dienen können?
  • Wie kann ich anhand des Fallverlaufes nachweisen, ob meine Prognose richtig war?

Eine wissenschaftliche Untersuchung über diese Thematik hat bisher noch nicht stattgefunden, würde den Homöopathen aber helfen, in diesen strittigen Fragen Klarheit zu erhalten. Dies würde dazu dienen, insbesondere bei der Anwendung der individualisierten Homöopathie, begründete Prognosen für einen Heilungsverlauf zu treffen.


Quellen und Referenzen

[1] Hahnemann, S. (1811). Reine Arzneimittellehre. Bd 1. Dresden: Arnold.

[2] Hahnemann, S (1835). Die chronischen Krankheiten: ihre eigenthümliche Natur und homöopathische Heilung. 2. Auflage. Dresden, Leipzig: Arnold.

[3] Hahnemann, S. (1921). Organon der Heilkunst. 6. Auflage. Leipzig.

[4] Hering, C. (1845). Vorwort. Hahnemann S.: The Chronic Diseases (C.J. Hempel, Übers.). New-York: William Radde. https://archive.org/details/b29326515_0001/page/n19/mode/2up?q=physician+%28Herings+Vorwort+zu+den+Chronic+Diseases+Seite+7%29

[5] Hering, C (1864). Herings „Schachzüge“ zur Erwiderung der Studien des Dr. Roth in Paris. In Homöopathische Vierteljahresschrift Bd 15. in Herings Medizinische Schriften Bd 3, S. 1311 ff. https://books.google.de/books?id=AxEwAAAAIAAJ&pg=PA323&dq=%22in+der+umgekehrten+Ordnung+ihres+Entstehens%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwjT5pPcrOeKAxU5nf0HHWTAFnMQ6AF6BAgGEAI#v=onepage&q=%22in%20der%20umgekehrten%20Ordnung%20ihres%20Entstehens%22&f=false

[6] Hering, C (1864). Constantin Hering’s homöopathischer Hausarzt. 12. Auflage. Jena: Friedrich Frommann. https://books.google.de/books?id=Yyjh2i6yZiIC&pg=PA13&dq=%22Anweisung,+wie+man+dem+Arzte+Bericht+erstatte%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwie2tS2z-aKAxWB1gIHHYkyLhoQ6AF6BAgFEAI#v=onepage&q=%22Anweisung%2C%20wie%20man%20dem%20Arzte%20Bericht%20erstatte%22&f=false

[7] Hering, C. (1865). Hahnemann's Three Rules Concerning the Rank of Symptoms. Hahnemannian Monthly; S. 5-12. https://books.google.de/books?id=1iFNAAAAIAAJ&pg=PA5&dq=%22Hahnemann%27s+three+rules%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwiKx4q7uueKAxXpa_EDHUUeCTsQ6AF6BAgKEAI#v=onepage&q=%22Hahnemann's%20three%20rules%22&f=false

Auch in folgenden Publikationen:

The Medical Advance, Bände 28-29, Veröffentlicht 1892, University of Iowa, S. 427-434. https://books.google.de/books?newbks=1&newbks_redir=0&pg=PA436&dq=Constantin+Hering+%22in+the+reverse+order%22&id=OXZMAQAAMAAJ&hl=de#v=onepage&q=Constantin%20Hering%20%22in%20the%20reverse%20order%22&f=false

Transactions of the Worlds̓ Congress of Homœopathic Physicians and Surgeons: Held […] in Chicago, Ill., May 29 to June 3, 1893, S. 870-889. https://books.google.de/books?id=JUVHAQAAMAAJ&pg=PA870&dq=%22Hahnemann%27s+three+rules%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwiRndb6vOeKAxUHlP0HHXHnN6E4ChDoAXoECAYQAg#v=onepage&q=%22Hahnemann's%20three%20rules%22&f=false

The British Homoeopathic Review. Band 3. British Homoeopathic Association. 1909. S. 716-720. https://books.google.de/books?id=YpkgAQAAMAAJ&pg=PA716&dq=%22Hahnemann%27s+three+rules%22&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwiRndb6vOeKAxUHlP0HHXHnN6E4ChDoAXoECAwQAg#v=onepage&q=%22Hahnemann's%20three%20rules%22&f=false

[8] Hering, C. (1875). Analytical Therapeutics of the Mind. Vol 1. Philadelphia: Boericke & Tafel. Abgerufen am 6.2.2025 von https://books.google.de/books?id=7YsNAAAAYAAJ&printsec=frontcover&dq=Hering+Analytical+Therapeutics+of+the+Mind&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false

[9] Hering, C. (1997). Constantin Hering’s homöopathischer Hausarzt (B. V. D. Lieth, Hrsg.). Nachdr. d. Ausg. 1875.

[10] Kent, J.T. (1919). Lectures on homoeopathic philosophy. Chicago: Ehrhart & Karl. Abgerufen am 6.2.2025 von https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=mdp.39015006605763&seq=35

[11] Kent, J.T. (1911) Correspondence of Organs, and Direction of Cure. Transactions of the Society of Homeopathicians; S. 31-33.

[12] Kent, J.T. (2004). Zur Theorie der Homöopathie: Vorlesungen über Hahnemanns Organon. Übersetzt von Jost Künzli von Fimmelsberg. 4. Aufl., [Nachdr.]. Haug.

[13] Lucae, C. (1998). Beitrag zur Entstehung des „Heringschen Gesetzes“. Zeitschrift für klassische Homöpathie. KH 2 Bd 42, S. 52-61.

[14] Matner, A. (2022). Das Denken der Homöopathie – Samuel Hahnemanns Lehre vom stellvertretenden Lokalsymptom. KVC Verlag, Essen. Abgerufen am 6.2.2025 von https://opus4.kobv.de/opus4-euv/frontdoor/deliver/index/docId/1229/file/Matner_Andreas.pdf

[15] Pötters, H. (2022). Lexikon der Homöopathie: Das Basiswissen der Homöopathie in Original-Zitaten Bd. 3 E-J, S. 456-470 https://books.google.de/books?id=DN1uEAAAQBAJ&pg=PA456&dq=Regel+und+ihre+Komponenten+inauthor:P%C3%B6tters&hl=de&newbks=1&newbks_redir=0&sa=X&ved=2ahUKEwiClLXiiO6KAxUJ1AIHHUzHDUkQ6AF6BAgHEAI#v=onepage&q=Regel%20und%20ihre%20Komponenten%20inauthor%3AP%C3%B6tters&f=false

[16] Saine, A. (1988). Hering's Law: Law, Rule or Dogma?. Artikel und Vortrag, welcher auf der zweiten Jahrestagung der Homöopathischen Akademie naturheilkundlicher Ärzte in Seattle, Washington, vom 16. bis 17. April 1988 vorgestellt wurde. Abgerufen am 29.3.2024 von https://homeopathy.ca/herings-law-law-rule-or-dogma/.

[17] Wikipedia contributors. (o. J.). Naturgesetz. Wikipedia, The Free Encyclopedia. Abgerufen am 6.2.2025 von https://de.wikipedia.org/wiki/Naturgesetz.


Verf.: smi, rmn | Rev.: glt | Lekt.: pz | zuletzt geändert 29.05.2023